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W—Erdensohn: Kirchliches Christenthum und Spiritualismus. 557
Wesen zu geben. So musste das Verständniss darüber
einer späteren, noch nicht eingetretenen Zeit vorbehalten
bleiben. Was wäre es erst an Verwirrung geworden, wenn
Christus seinen Jüngern mehr geoffenbart hätte? Und doch
hatte er ihnen noch viel zu sagen, aber sie konnten es nicht
fassen (Joh. lü, 12). Wenn selbst ein Nikodemus das Wort
Jesu nicht verstand {Joh. 3, 3, auch Vers 9—11): „Wenn
Jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich
Gottes nicht sehen," so zeigt das genugsam, dass er noch
mit manchen Eröffnungen zurückhalten musste.
Es bleibt sich auch ganz gleich und ist ohne besondere
Bedeutung, wofür die Menschen Jesum halten, — sie machen
ihn dadurch weder grösser, noch kleiner: ob für „Gottes
Sohn" oder für den „Sohn der Menschen11, — seine Lehre
bleibt die gleiche trostreiche, Seele und Geist veredelnde;
es ist auch nur allein um diese welterleuchtende Lehre der
Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zu thun und um
die Läuterung durch dieselbe. Was wir nicht begreifen
können, das kann uns auch nicht als Schuld angerechnet
werden. Freilich wäre es für unsere Entwickelung erfolgreicher
, wenn wir eine richtigere Erkenntniss hätten über
den allmächtigen Schöpfer der Welten, über die Wesenheit
Jesu, wie auch über den allgemeinen Zusammenhang der
Dinge im Weltendasein, über den Zweck unseres eigenen
Lebens und die zukünftige Bestimmung unseres Geistes.
Aber durch Zank und Streit werden wir solche Erkenntniss
nicht erlangen. Viel wird fruchtlos disputirt auch noch über
andere dogmatische Meinungsverschiedenheiten: „Es ist" oder
„es bedeutet" (beim Abendmahl), „es ist unumgängliche Bedingung
, um selig werden zu können", oder „so soll es zu
Christi Gedächtniss gethan werden" u. s. w.
Im Kultus der kirchlichen Dogmen und Satzungen leistet
man Grosses, in der Ausübung kleinlicher Formalitäten ist
man ausserordentlich peinlich und gewissenhaft, da man
darin sein Seelenheil sieht,*) vollbringt dagegen in erstaunlicher
Unzurechnungsfähigkeit und Grausamkeit grosse Verbrechen
gegen die christliche Moral mit ruhigem Gewissen
und rechnet sich dieselben, als „patriotische Heldenthaten"
*) Als Kuriosum sei Wer erwähnt, dass ich persönlich einmal
eine hitzige Debatte darüber angehört habe (gelegentlich einer
religiösen Disputation zwischen einem Priester und einem Sektirer),
wie man sich beim Gebet bekreuzigen solle: mit zwei oder mit drei
zusammengehaltenen Fingern der rechten Hand. So sehr ist die
Lehre (hristi durch den Geist der Sekte, der engherzigen Konfession
und der verkünstelten Symbolik in nichtssagende Kleinlichkeiten
zusammengeschrumpft.
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