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W— Erdensohn: Kirchliches Christenthum und Spiritualismus. 56l
Um seiner Lehre eine um so grössere Kraft und Bedeutung
für die Welt beizulegen, musste er dieselbe mit
seinem ungerecht erlittenen Tode, mit vorhergegangenen
Leiden besiegeln, wie er dies auch wiederholt mit Nachdruck
vorausgesagt hatte (erst nach dem Tode grosser Sittenlehrer,
besonders der als Märtyrer für die Wahrheit gestorbenen,
erlangten stets deren Lehren ihre eigentliche Macht). Auch
sein Erscheinen nach dem Tode — seine Auferstehung —
musste stattfinden, um dadurch die Unsterblichkeit des
Geistes zu beweisen und Bahn für eine neue geistigere
freiere Anschauung, — gegenüber der engherzigen, veralteten
, materialistischen, wie sie unter den damaligen Juden
die Sadduzäer vertraten, — zu brechen. Christi ganzes Benehmen
während seiner Leidenszeit war so edel, so selbstlos
aufopfernd und rührend, dass ich mich stets, bei dem Gedanken
daran, von Liebe zu ihm durchdrungen fühle. Allein
sein Gebet in der qualvollsten Stunde: „Vater, vergieb ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie thun!" — welchesUebermaass
von selbstvergessener Liebe liegt darin, und welche schmerzliche
Besorgniss für das Seelenwohl seiner Peiniger, welche
ihn in seinen Leiden noch herzlos verhöhnten. Zugleich
welches Vollbewusstsein seiner erhabenen Stellung im
Geistesdasein und seiner göttlichen Mission, frei von jeglichem
Schwanken, jeglicher Ungewissheit und Unklarheit
über sich und sein Wesen, wie auch über seine Bedeutung.
Weder durch seine eigenen Qualen, noch durch die schadenfrohe
Menge rings umher Hess er sich auch nur für einen
Augenblick irre machen m seiner Klarheit über sich und
seine Sendung und blieb gross und edel bis zum letzten
irdischen Athemzuge.
So kann kein Wesen handeln, welches, nach Heilenbach,
„Anwandlungen gehabt haben kann, sich für den allmächtigen
Gott gelten zu lassen."*)
Soviel über Christi Wesen und Bedeutung. —
Ich will nur noch hinzufügen und besonders darauf
*) Ich rechtfertige es überhaupt nicht, wenn man Jesv unbedacht
Vieles zur Last legt, ohne sein eigentliches Wesen zu verstehen. —
Ich bin auch, trotz aller meiner Sympathien für Hellenbach, in manchen
Punkten nicht mit ihm einverstanden, kenne auch nicht alle seine
Schriften. Was seine Ansicht über den Selbstmord betrifft (Vor-
urtheile, Th. I), so ist mir dieselbe höchst abstossend. Wir haben,
meiner Ueberzengung nach, sittlich nicht das Recht, uns das Leben
zu nehmen, welches uns von der Vorsehung zu unserer Vervollkommnung
gegeben ist. Ein gewaltsames Zerreissen des Lebensfadens
muss sich im jenseitigen geistigen Zustande rächen. Als
Sinnbild kann die unreif vom Baum gefallene Frupht gelten, die
ihre Bestimmung nicht erfüllt hat.
Psyohische Studien. September 1901. 36
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