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Seiling: Goethe und der Okkultismus.
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Einen triftigen Beweis für Goethe'* grosse Sensitivität
liefert Eckermann1* Bericht (November 1823) über die Art
und Weise, wie ö. in seinem Bett zu Weimar das Erdbeben
von Messina richtig wahrgenommen hat.
Das bekannteste okkulte Erlebniss Goethe1* ist die gegen
Ende des elften Buches von „Aus meinem Leben" berichtete
Vision, welche der Dichter nach seinem Abschied von Sesen-
heim gehabt: er sah sich selbst zu Pferde denselben Weg
und im selben Kleide entgegenkommen, wie es acht Jahre
später, als er Friederike nochmals besuchte., wirklich der
Fall war.
Ueber andere seiner Erlebnisse hat Goethe mit Eckermann
(Oktober 1827) gesprochen. Nachdem dieser einen merkwürdigen
Wahrtraum erzählt, erwiderte Goethe: „Dergleichen
liegt sehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch
nicht den rechten Schlüssel haben. Wir wandeln alle in
Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von
der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt
und wie es mit unserem Geiste in Verbindung steht. Soviel
ist wohl gewiss, dass in besonderen Zuständen die Fühlfäden
unseres Inneren über die körperlichen Grenzen hinausreichen
können und ihnen ein Vorgefühl, ja auch ein wirklicher
Blick in die nächste Zukunft gestattet ist." Darauf erwähnt
Eckermann einen Fall vom zeitlichen Fernsehen im wachen
Zustande, und Goethe fährt fort: „Das ist gleichfalls sehr
merkwürdig und mehr als Zufall. Wie gesagt, wir tappen
alle in Geheimnissen und Wundern. Auch kann eine Seele
auf die andere durch blosse stille Gegenwart entschieden
einwirken, wovon ich mehrere Beispiele erzählen könnte.
So habe ich einen Mann gekannt, der, ohne ein Wort zu
sagen, durch blosse Geistesgewalt eine in heiteren Gesprächen
begriffene Gesellschaft plötzlich still zu machen im Stande
war. Ja er konnte auch eine Verstimmung hereinbringen,
so dass es allen unheimlich wurde.. . Unter Liebenden ist
die magnetische Kraft besonders stark und wirkt sogar sehr
in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle
genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges
Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und
ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegen
kam. So erinnere ich mich eines Falles aus den ersten
Jahren meines Hierseins..In die ausführliche Erzählung
dieses Falles flocht G. überdies die Worte ein: „Ich glaubte
mich unsichtbar von höheren Wesen umgeben, die ich anflehte
, ihre Schritte zu mir, oder die meinigen zu ihr zu lenken."
Ein weniger bekanntes Erlebniss Goethe1* hat Dr. Schwabe
in der Frankfurter „Didaskalia'* (vom 28, April 18G0) mit-
Pgyohisohe Stadien. Oktober 1901. 38
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