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Maier: Ein authentischer Materialisationsbericht. 599
auf ihren Schuhen dahin zu gleiten, man sah sie nur bis
zu halber Höhe und sie erinnerte mich in der Dunkelheit
an Goethe^ „Braut von Korinth."
Nachdem sie an den übrigen Zuschauern nur vorüber
gestreift war, kam sie auf mich zu, der ich, eine Hand an
die Scheidewand des Kabinets gestützt, ein wenig bei Seite
sass. Sie streichelte mir sanft die Stirne, setzte sich auf
meine Kniee, legte einen ihrer Arme um meine Schulter
und küs8te mich auf die linke Wange. Sie schien mir nur
das Gewicht eines etwa achtjährigen Kindes zu haben, aber
ich fühlte stark ihren auf meiner Schulter liegenden Arm;
was die mich küssenden Lippen betrifft, so machten sie den
Eindruck der Lippen einer lebenden Person. Nachdem ich
sie um Ermächtigung dazu gebeten hatte, drang ich in das
Kabinet ein, während das kleine Mädchen noch im Zimmer
war; ich fand dort kein Medium, obgleich ich alle
Ecken und Schlupfwinkel aussuchte und um mich zu ver-
gewissem, dass ich nicht von einer Halluzination betroffen
sei, am Stuhl, an den Wänden und an dem ganzen Innenraum
des Kabinets herumtastete. Ich konnte demnach nur zweierlei
annehmen: entweder war der „Geist" kein Geist, sondern
das Medium selbst, oder hatte sich letzteres nach Art der
orientalischen Thaumaturgen transfigurirt.
Ehe ich die Stadt verliess, entschied ich mich, den
Knoten der verwickelten Frage zu durchhauen. Nachdem
ich also gleich am anderen Abend die ganz freundliche
Zustimmung von Mrs. Comp ton erhalten hatte, sich meinen
genauen Untersuchungen zu unterwerfen, nahm ich ihr ihre
Ohrringe weg, Hess sie im Kabinet auf einen Stuhl sitzen,
an dem ich sie festband, indem ich sehr starken Bindfaden
quer durch die in ihre Ohrläppchen gestochenen Löcher
hindurchzog und siegelte mit Wachs die Enden des besagten
Fadens an der Lehne des Stuhles an, wobei ich noch auf
den Siegellack mein persönliches Siegel drückte; schliesslich
befestigte ich noch den Stuhl sozusagen am Fussboden
mit Schnur und Siegellack und zwar in reichlicher
Fülle.
Als das Licht herabgedreht worden war, wie dies ja
bei derartigen Sitzungen üblich ist, und nach Verschluss
der Eingangsthüre des Kabinets begannen wir einige Minuten
lang zu singen;*) hierauf bewegten sich plötzlich durch die
*) Der Gesang hat dabei eine doppelte Wirkung: er dient dazu
Lebensfluidum ausströmen zu lassen und weiterhin, die erforderliehe
Harmonie zwischen den verschiedenen Mitgliedern der Gruppe
herzustellen, deren Gedanken so nicht naoh rechts oder links hm
gehen, bezw. abschweifen können.
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