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Gubalke: C. du Prel und Im. Kant's Seelenlehre. 605
Schriften als Folgerungen aus dem mystischen Thatsachen-
material sich finden. Ich freilich hatte leichte und nur
induktive Arbeit, Kant aber konnte sich nur intuitiv in das
Räthsel des Menschen versenken und hat dennoch das
Richtige getroffen." Ich theile allerdings die Ansicht, dass
sämmtliche Sätze, welche du Prel die Quintessenz seiner
mystischen Schriften nennt, sich schon aus dem Begriffe
des intelligiblen Charakters ableiten, sich also aus der für
Viele allein massgebenden „Kritik der reinen Vernunft"
folgern lassen.
Jedenfalls bestätigt sich in den Vorlesungen Kant's
das Talent, Vorstellungen zu anticipiren, welches er in den
Naturwissenschaften so vielfach gezeigt hat, auch in seinem
eigentlichen Fache als Philosoph. Hatte er als Astronom
die erst später entdeckten Urnebel, als Physiker das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft, als Biologe die organische
Entwickelungslehre geahnt, so hat er in seiner Psychologie
die moderne mystische Philosophie anticipirt. Schon 23 Jahre
vorher hat Kant in den „Träumen der Metaphysik zu den
Träumen eines Geistersehers" solche Thatsachen der Erfahrung
von der Zukunft erwartet, — ich erinnere an das
bekannte Wort: „es wird künftig, ich weiss nicht, wo oder
wenn, noch bewiesen werden", — aus denen sich seine
metaphysischen, deductiv erschlossenen Vorstellungen inductiv
würden ableiten lassen. Wie Goethe sagt, dass man manchmal
von der ßegel abweichen müsse, um keinen Fehler zu
begehen, — wie Schopenhauer, die starkgeistige Inconsequenz
besass, trotz seines panthelistischen *) Systemes in seinen
späteren Aufsätzen den Individuationsprozess über Geburt
und Tod des Individuums hinaus zu verlängern, so hat auch
Kant, in Consequenz seiner Kritik der reinen Vernunft, zwar
auf metaphysische Gewissheiten, nicht aber auf Wahrscheinlichkeiten
und Möglichkeiten verzichtet und hat Hypothesen
aufgestellt, deren Beweis durch die erweiterungsfähige
Erfahrung zu liefern er der Zukunft überliess. Wie wissenschaftlich
und empirisch fest begründet und erhärtet steht
doch ein Eesultat da, zu dem Immanuel Kant deductiv, Carl
du Prel hundert Jahre nach ihm inductiv gelangt ist! Wie
gross steht der Seher auf seiner Geisteswarte, dessen
Intuitionen theils eine lückenlose Bestätigung durch ihm
noch unbekannte Erfahrungstatsachen gefunden haben,
theils sich restlos mit den logischen Consequenzen decken,
welche mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit Carl du Prel
*) Panthelismus (von &ela) = eOt'Zm, ich will) ist eben
die Ansieht, nach welcher Alles im letzten Grund Wille ist. — Red.
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