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636 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1901.)
Schönes kaum mehr erheben. Der Materialismus, der die Quelle alles
Seins und Werdens nur in der mechanisch erfolgenden Bewegung der
Körperstof£e sucht, lässt in seinen letzten Folgen alle erhabenen
Ideale der Menschheit höchstens als wohlthätige Illusionen erscheinen
und führt so zur sozialen Anarchie.
Wir brauchen aber für das Erhabene in der Natur, in der
Beligion, neue feste wissenschaftliche Stützen, die dem menschlichen
Geiste die Brücken wölben, auf denen er aus dem Heere der grossen
Errungenschaften unserer Zeit — namentlich auch auf psychologischem
Gebiet — in das endlose Gebiet göttlichen Schaffens hinüber schreitet
und zu einer Perspektive gelangt, die ihn aus dem Grab, das ihm
der materialistische Monismus, wie ihn auch Haeckel lehrt, bereitet, zu
einer Perspektive unendlichen Lebens, unendlichen und stets veredelnden
Fortschrittes erhebt. Nun ist aber, wie der geistvolle Verf.
im Vorwort nachweist, die moderne Naturwissenschaft derzeit bemüht,
alle Naturvorgänge auf Bewegung und ihre Ursachen zurückzuführen
; die Gesammtheit dieser Lehren wird als Energetik
bezeichnet. Die scheinbare Fernwirkung der Körper auf einander
führte den Verf. auf einen neuen Kraft- oder Energiebegriff, wornach
Kräfte (bezw. — wenn sie sich bewegen — Energien) substantielle,
volumenhafte, selbstständige Dinge sind, die bei ihrer unfassbaren
Kleinheit sich gewöhnüch der sinnlichen Wahrnehmung entziehen
und erst bei einer ungeheueren Verdichtung jene Erscheinung liefern,
die wir Körperstoff oder Materie nennen, die nun sichtbar und
greifbar wird, wornach also die Körperstoffe Zusammensetzungen
aus Kräften unbestimmter Art wären. Der Annahme Kaufs,
dass der Baum nur eine nothwendige Denkform, also an sich „Nichts"
sei, stellt Verf. die Gegenhypothese gegenüber, dass der Baum, in
welchem alle Dinge sind oder sein können, an sich ein substantiell
Seiendes ist, das nicht verschoben werden kann und somit alle
Dinge durchdringt, wie dies seither theilweise vom Aether angenommen
wurde. Im weiteren Verlauf der schwierigen, aber für jeden Denker
fesselnden Untersuchungen ergiebt sich sodann, dass aus der absolut
ruhenden „ßaumsubstanz* heraus eine — vom Verf. „Baumkraff
genannte — Urkraft wirkt als die einzige, aber lebendige und allintelligente
Macht, welche alle Welten und ihre Lebewesen ins
Dasein setzt und in ihrem Betriebe, bezw. Bestände erhält. Die
„Baumsubstanz* des Verf. mit ihren lenkenden „Energie-Molekülen
" ist aber offenbar nur ein neuer Ausdruck für den als konti-
nuirlich gedachten Urgrundstoff, den David ßriedr. Strauss in seinem
letzten Werk „Der alte und der neue Glaube" als „W eltsubstanz"
bezeichnete, während ihn andere Monisten mit dem Weltäther als
Urkraft identifizieren. Manche Hypothesen des Verf. werden dem
exakten Forscher nicht gehörig fundiert erscheinen, wenn sie auch
einen Weg zur Lösung der schwierigsten Probleme zeigen, vor welchen
der mechanische Materialismus ratlos dasteht. — Als Versehen no-
tiren wir (ausser einigen leichten Sprachverstössen des österreichischen
Dialekth) auf S. 484: „Das merkwürdige Phänomen des berühmten
stigmatisirten Autosuggesteurs Lotus Lateau*, womit wohl die bekannte
Stigmatisirte Louise Latean gemeint ist, und Seite 495/96 Lourds statt
Lourdes. — Das als Vermächtniss an die denkende Mitwelt hinter-
lassene Werk Sch/esinf/tr'& bietet dem Leser, der die nicht unbedeutende
Mühe, sich vorurtheilsfrei in eine gänzlich neue
Weltauffassung zu vertiefen, nicht scheut, wie schon ein Blick auf
das überreiche (auch in Separatabdruck zu beziehende) Sachregister
zeigt, eine wahre Fundgrube werthvollen Materials und eine fast
unerschöpfliche Quelle hohen geistigen Genusses. — Britz Freimar.
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