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2 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1902.)
Anhänger, erhalten und an Stelle der alten Gott- und
Weltanschauung trat eine neue, Christenthum genannt.
Das an Mythologie so überreiche und barbarische Götzenthum
mit seiner Vielgötterei verletzte die immer mehr erwachende
Vernunft und entsprach der alten Anschauung
nicht mehr. Es war deshalb etwas ganz Natürliches, dass
Viele der neuen Lehre lauschten, die von einem allliebenden
Gott sprach, der die Armen ebenso lieb habe, wie die
Reichen.
Das ursprüngliche, noch nicht durch Dogmen verzerrte
Christenthum hatte entschieden viele alte Glaub ensvorur-
theile aus dem Wege geschafft, was aber durch die spätere
Dogmatik wieder verloren ging.
Als bei den schon höher civilisirten Griechen und
Römern die einfachere Lehre des Christenthums in der
That bessere Menschen erzeugte, wurden diese, wegen ihrer
Aufopferung für ihren Glauben, zu „Heiligen" gemacht; sie
lebten gemäss ihren Lehren und das imponirte den Heiden.
Diese fingen nun an, das Christenthum anzunehmen, das
sich namentlich im centralen und nördlichen Europa mehr
und mehr ausbreitete.
Die ersten christlichen Missionäre waren Männer, die
friedlich, ohne Blutvergiessen und nur mit dem Kreuze
bewaffnet, sich ihren Weg durch die barbarischen Wildnisse
bahnten. Sie bauten sich Hütten, fällten die Bäume, bebauten
das Land, zähmten sich Hausthiere und waren stets
bereit, ihren Mitmenschen Rath zu ertheilen, Gesunde und
Kranke zu belehren und zu pflegen. Sie liessen es sich
angelegen sein, namentlich den Bedürftigen Hilfe zu bringen,
und machten das Sprichwort zur Wahrheit; „Arbeiten
heisst Beten." Ihr reines, nutzenbringendes und wohlwollendes
Wesen war die Ursache, dass sich mancher Heide bekehrte
. Viele Legenden sprechen von der Kunst dieser
„Heiligen", wilde Thiere zu bändigen, Kranke zu heilen und
Wunder zu vollführen, was heutzutage unsere „Medien"
auch zu thun vermögen, wenn sie, sich im Zustande der
Inspiration befindend, vom „heiligen Geiste41 sich ergriffen
fühlen. —
Das Christenthum der heutigen Zeit ist schon lange
nicht mehr das Christenthum der apostolischen Aera. Wohl
hat es sich noch das Menschlichkeitsprinzip der „guten
Werke" als innere Kraft seiner Lehre erhalten; allein durch
die Intoleranz und grausame Verfolgung Andersdenkender
droht es seinem Niedergang entgegenzugehen, obgleich es
bei der Masse blindgläubiger Seelen immer noch seine
Macht äussert.
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