http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0022
14 Psychische Studien, XXIX. Jahr&. 1. Heft. (Januar 1902.)
immer ist sie gewärtig, empor zu schweben; sie glaubt mit
der Erde nur unter Anstrengung in Berührung bleiben zu
können. Ich sage ihr wohl, sie bleibe ja doch am Boden,
sie habe immer dasselbe Gewicht; auch könne sie durch
Gottes Macht ebenso leicht um 1 Meter als um 1 Millimeter
emporgehoben werden, und wenn einmal eine deutliche
Erhebung um 1 Meter eingetreten wäre, dann könne man
an solche Vorgänge glauben. Sie hört aifmerksani zu,
versucht mir zu glauben; aber die Illusion kommt immer in
gleicher Stärke wieder, die Vorstellungen vcn Kreuzigung
und Himmelfahrt lassen sich nicht beseitigen. Sie breitet
während des Schlafes die Arme in Kreuzform aus und bleibt
so manchmal die ganze Nacht. Ebenso steht sie zuweilen
während der ekstatischen Erstarrung auf den Fussspitzen
und mit ausgebreiteten Armen. So sehr ist ihr Gedankenkreis
mit dieser Vorstellung erfüllt^ dass sie sich oft damit
beschäftigt, ein Kruzifix zu zeichnen. Danach ist es mir
sehr wahrscheinlich, ja ich halte es durch viele Untersuchungen,
auf die ich hier nicht eingehe, für bewiesen, dass die Con-
traction der Füsse im gestreckten Zustande und das Gehen
auf den Fussspitzen mit jenen beiden Vorstellungen in
Zusammenhang steht: das erste Beispiel des mächtigen
Einflusses, den die Vorstellungen auf den Körper haben.
Ein zweites wird dies noch augenfälliger machen.
Müdeleine war schon einige Zeit in der Salpetri&re, ais
sie mich wegen einer eigentümlichen Verletzung an der
Spanne ihres rechten Fusses, die dauernd zu sein schien,
consultirte. Es war eine kleine Excoriation, gerade in der
Mitte der Spanne, ungefähr 1 cm lang in der Längsrichtung
des Fusses und halb so breit. Die Kranke erzählte, sie
habe nach einer ähnlichen Erstarrung, wie sie der Contraction
vorausgegangen war, starke Schmerzen an den Füssen gespürt
; es habe sich ein Bläschen gebildet, sei nach einigen
Tagen aufgebrochen und habe dieses Geschwür erzeugt.
Dieselbe Erscheinung trat bald darauf am linken Fusse auf,
dann an beiden Händen in der Mitte der Handfläche; endlich
bekam sie solche Pemphigusblasen auch an der linken Brust.
Die Excoriationen blieben einige Wochen, ohne sich merklich
zu vergrössern, eiterten etwas, heilten aber schnell wieder,
besonders wenn ein leichter Verband angelegt wurde. Jedoch
erschienen sie nach einiger Zeit wieder. Zieht man die
Stelle ihres Auftretens in Betracht, sowie die Zeit desselben,
nämlich zu den grossen Kirchenfesten, so darf man sie wohl
in Beziehung setzen zu den fünf Wunden Christi, wie sie
schon oft bei Personen in Ekstase oder mystischem Delirium
beobachtet worden sind.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0022