http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0069
60 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 1. Heft (Januar 1902.)
dürfe auch nicht vergessen, dass sieh in der letzten Zeit die
Irrenkunde immer mehr für ein System ausgesprochen hat,
das den Kranken bei der Behandlung die möglichste Freiheit
der Bewegung gewährt. Die Anwesenheit der erwähnten
antisozialen Elemente würde jedoch noth wendiger Weise eine
Einschränkung dieses Systems notwendig machen und die
unschädlichen Irren ungerechter Weise für gemeingefährliche
leiden lassen. Der Redner verlangte daher die Errichtung
besonderer Annexe, nicht im Anschlüsse an Irrenhäuser,
sondern im Anschlüsse an die Gefängnisse. — Dr. Hendrik
ßedichen sprach insbesondere über diejenigen wahnsinnigen
Verbrecher, die sich zur Uebergabe in eine Irrenanstalt
nicht eignen. Er führte eine Reihe von Individuen vor, die
eine grosse Anzahl von Strafen erlitten für Vergehungen,
die eigentlich für sie ganz ohne Sinn und ohne Nutzen, ja
sogar ganz lächerlich waren. Sie wurden so lange eingesperrt,
bis man ihre geistige Minderwerthigkeit erkannte. Sie waren
„unverbesserlich44, bis man ihnen die Gelegenheit nahm. Da
es wegen der Disciplin nicht gut möglich sei, sie mit anderen
Geisteskranken zusammen in ein Asyl zu bringen, räth
Redner die Schaffung ländlicher Colonien für derartige
Wahnsinnige an. — Professor Nücke behandelte speziell die
Frage der zu errichtenden Anstalten. Es gebe drei Möglichkeiten
: Spezielle Asyle, Annexe zu Irrenanstalten, wie
sie in Bedlam in England, in Dalldorf bei Berlin, in Herzberge
u. s. w. bestehen und schliesslich Annexe zu Gefängnissen.
Der Redner empfahl die dritte dieser Arten, natürlich mit den
nöthigen Abänderungen der Gefängnissordnungen. — In der
Nachmittagssitzung besprach Prof. Wellenbergh das Thema:
„Das Alter und das Verbrechen." Er erklärte seine Verwunderung
darüber, dass die Gesetzgeber die normale Rückentwickelung
der Persönlichkeit bisher gar nicht beachtet
haben. Man müsse sich vor Augen halten, dass die Altersschwäche
genau so eine Entschuldigung bilde wie die Jugend.
Von allen mehr als siebzigjährigen Verbrechern, die es von
1890—liJOO in Deutschland gab, waren siebzig Prozent nicht
vorbestraft. Das zeige doch am besten den Einfluss des
Alters. Wenn man also weiss, dass diese greisen Verbrecher
bis dahin ein ordentliches Leben führten, so steht es im
Widerspruch mit allen Grundsätzen des Rechtes und der
Psychopathologie, von dem Einflüsse des Alters einfach
abzusehen. Die Verbrechen eines Greises, der bis zum
siebzigsten Lebensjahre anständig lebte, sind immer pathologischer
Natur. Der Redner fordert daher folgende Gesetzesbestimmungen
: 1) Die Verbrechen unvorbestrafter
Greise verlangen ein besonderes strafrechtliches Verfahren.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0069