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66 Psychische Stadien. XXIX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1902.)
oder auch durch äussere Vorgänge eine ernstliche Veranlassung
gegeben, so lässt sich Madeleine doch zu Bewegungen
bestimmen. Sie nimmt Gebetsstellung an, steht auf und
breitet die Arme aus, oder legt sich nieder. Oft schrieb
sie mir lange Briefe, die mir sehr nützlich waren, weil sie
sich darin über ihre Empfindungen aussprach. Diese Briefe
versteckte sie vor den anderen Kranken, damit kein indiskretes
Auge sie läse. Eines Tages wurde sie während des Schreibens
von der Ekstase befallen und schlief neben ihrem Briefe ein.
Ihre Genossinnen wollten die Gelegenheit benutzen und ihn
lesen, „aber Gott — erzählt Madeleine — vergönnte mir,
dass ich eine Bewegung machen konnte, um sie zu vertreiben."
Als sie sich an mich gewöhnt hatte, brauchte ich während
der Ekstase nur zu ihr zu reden, sie zu bitten, sie möchte
aufstehen und mit in das Laboratorium kommen, so gehorchte
sie mir, langsam, doch mühelos. Sie sprach sogar mit mir,
wenn auch ganz leise. Demnach ist die freiwillige Bewegung
wohl erschwert, aber nicht unterdrückt, wie bei den Krisen
hysterischer Lethargie oder Katalepsie. Auch die Empfänglichkeit
der Sinne ist nicht aufgehoben. Sie fühlt Dinge,
die man ihr in die Hand legt; sie hört; und wenn sie dazu
gebracht wird, die Augen zu öffnen, sieht sie auch. Besonders
bemerkenswerth ist es, dass auch keine Gedächtnissstörungen
eintreten. Sie erinnert sich nach der Ekstase
dessen, was in dem abnormen Zustande vorgegangen ist.
Sie schreibt mir ausführlich, was sie während der Ekstase
gedacht hat, kann auch angeben, was ich für Versuche mit
ihr angestellt habe, was ich für Stiche gemacht, weiche
Angaben der Aesthesiometer gezeigt, was ich ihr in die
Hände gegeben, wie ich ihr die Arme gelegt habe u. s. w.
So zeigen diese Beobachtungen, gleich den erst erwähnten,
dass sich die Ekstase zwar in gewisser Weise der hysterischen
Katalepsie und dem Somnambulismus nähert, aber nicht
damit identisch ist. —
Ein Umstand, worin die Schilderungen aller Ekstatischen
übereinstimmen, verdient noch Beachtung. Es ist das Gefühl
des Glücks, des unaussprechlichen Wohlseins, das ihre
seelischen Vorgänge begleitet, nicht nur während der Ekstase,
sondern auch, nur etwas abgeschwächt, noch einige Zeit
nach dem Erwachen. Madeleine schreibt: „Ich empfinde
eine innere Freude, die sich durch meinen ganzen Körper
ausbreitet. Die Luft, die ich athme, der Anblick des Himmels,
der Gesang der Vögel, alles versetzt mich in unbeschreibliche
Wonne. Ich sah wunderschöne Dinge, beim Gehen
fühlte ich mich wie getragen und spürte mit Entzücken,
wie ich in der Luft schwebte. Und beim Erwachen schmeckten
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