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Janet: Eine Ekstatische.
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mir mein Wasser und Brot köstlicher als die ausgesuchtesten
Speisen. . . . Die Erde wird für mich eine Vorhalle des
Himmels, mein Herz geniesst im voraus die Seligkeit, zu
der es einst bestimmt ist/' Derartige Schilderungen sind ja
nicht neu. Ich erinnere mich einer Kranken, die einmal bei
Dr. Charcot in Dienst war; sie war entschieden hysterisch
und hatte schwere Anfälle allgemeiner Contraction, so dass
sie völlig bewegungslos blieb, bis die Steifheit durch Massage
beseitigt wurde. Wurde nun diese vorgenommen, so erwachte
die Kranke aus ihrer Erstarrung mit Aechzen und Schelten,
dass man sie mit Gewalt einem Zustande der Wonne ent-
reisse, den sie gerne noch länger genossen hätte. Bei
Anfällen hysterischer Katalepsie habe ich die gleiche
Beobachtung gemacht, und Aehnliches wird berichtet über
den Zustand vor dem Eintritte des Todes. Was aber da
als eine Ausnahme erscheinen mag, ist bei der Ekstase die
Regel, kann also als charakteristisch dafür angesehen werden.
Das Studium dieser Empfindungen halte ich für fruchtbar
nicht nur für die Erklärung dieser neuropathischen Zustände,
sondern auch für die Theorie der Gefühle und Empfindungen
überhaupt. Nach James und Lange sollen die Gefühle überhaupt
nur im Bewusstwerden von respiratorischen und vasomotorischen
Muskelbewegungen bestehen, die durch den psychologischen
Zustand des Organismus gegeben sind. Dumas hat
neuerdings gezeigt, dass die Freude mit einer Steigerung aller
körperlichen Functionen verbunden ist, dass sie die Muskelkraft
grösser, die Bewegungen lebhafter und zahlreicher, die
Athmung leichter, den Blutumlauf thätiger macht. Merkwürdigerweise
ist gerade das Entgegengesetzte zu beobachten
bei den Verzückungen der hysterischen Katalepsie, der
Sterbenden oder Ekstatischen, und ich schliesse daraus, dass
jene Theorie der Gefühlserregung nicht umfassend genug
ist, dass man bei Erklärung der Freude und des Kummers
den rein cerebralen Vorgängen mehr Raum geben muss: den
Abänderungen der psychischen Thätigkeit, den Schwankungen
der psychischen Schwelle, die oftmals die ganz eigenthüm-
licben Empfindungen bestimmen müssen, in denen das
Bewusstsein der peripherischen Veränderungen nur sekundär
ist. Um diese Empfindungen zu verstehen, müsste man sich
davon Rechenschaft zu geben suchen, wie der Geist während
der Ekstase functionirt; doch können diese Vorgänge hier
nicht eingehend studirt werden. Es giebt nämlich mehrere
Formen oder Stufen der Ekstase, von der heiligen Therese
als die verschiedenen „Stufen der Andacht" bezeichnet. Sie
haben aber gemeinschaftliche Züge, die wohl beachtens-
werth sind.
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