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68 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1902.)
Bei Madeleine bringt die Ekstase eine Fülle von Gedanken
und Bildern mit. Diese Gedanken ordnen sich um einen
Mittelpunkt, um einen religiösen Gegenstand; es handelt
sich manchmal um eine Vision der unendlichen Vollkommenheiten
Gottes oder seiner allumfassenden Liebe, manchmal
um Betrachtungen über daR Bild der heiligen Jungfrau, über
Jesu Geburt oder Kreuzigung und dergl. Die Betrachtungen
sind also ziemlich mannigfaltig — theils philosophisch, theils
moralisch, theils rein beschreibend; überraschend ist doch
immer ihr einheitlicher Inhalt: stundenlang wird derselbe
Gegenstand verfolgt; alle Gedanken gruppiren sich um ihn,
jedes durch Ideenassociation hervorgerufene Bild wird durch
Vergleiche und Metaphern damit verknüpft. Hier nur ein
Beispiel. Madeleine erzählt: Ein Summen Hess mich an eine
Mücke denken; ich sah das Mücklein vor mir am Bande
eines Milchtopfs, sah es hineinfallen, und war froh, dass ich
ihm das Leben retten konnte. Ich zog es heraus, wischte
es ab, sah zu, wie es sich auf meinem JFinger putzte, — es
schien mir ganz zutraulich und dankbar. Ich freute mich,
dass es nicht von mir fort wollte; ich überlegte, womit ich
es füttern könnte; ich fühlte, ich könnte mein Blut ganz
für es hingeben, so lieb war es mir geworden. Da sprach
eine innere Stimme zu mir: 'Verwunderst du dich nun,
dass Gott den Menschen liebt, der vor ihm doch nur ein
Stäubchen ist ? Auch er hat Freude daran, deine Seele von
den Dingen dieser Welt, die ihr ankleben, zu reinigen,
damit sie befreit und geläutert emporschweben könne. Was
du für dies Mücklein thun möchtest, das hat er für dich
gethan, hat seinen Leib und sein Blut für dich gegeben.'
Und mir ist es dann, als ob ich in dieser Liebe versänke."
— Bezeichnend ist auch die mit solchen Vorstellungen verbundene
Empfindung ihrer zweifellosen Wirklichkeit. Die
Mysterien des Glaubens erscheinen klar und begreiflich.
Alles, was Madeleine denkt, sieht sie. „Ich verstehe, sagt
sie, das Dogma von der Dreieinigkeit und von der unbefleckten
Empfangniss; denn ich sehe und fühle es... Gott erscheint
vor meinen Augen wie eine himmlische Sonne. Unbeschreiblichen
Glanz erblicke ich; eine Sonne folgt der anderen,
immer leuchtender und sehoner; es ist ein wahrer Abgrund
von Licht, blendender als die Sonne, strahlender als Diamant,
— und eine Stimme sagt mir: so lässt mich Gott etwas
von seiner Glorie, vom Glänze des Himmels sehen.1' Und
die Gestalten Jesu Christi und der Jungfrau Maria erscheinen
ihr, und sie versucht zu zeichnen, was sie gesehen hat, und
ist tief bekümmert, dass ihre Bilder so weit hinter dem
Originale zurückbleiben. Sie glaubt auch in räumliche und
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