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118 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1902.)
Adresse an Tolstoi der Ansicht Ausdruck gegeben, dass die
Entscheidung der öffentlichen Meinung in Schweden nicht
gerecht geworden sei. Mag sein, sie kann aber deshalb
durchaus im Sinne des Stifters Alfred Nobel liegen". — Den
Vorwurf eines damit begangenen schweren Missgriffs verschärft
nun in einem sonst beachtenswerten Feuilleton
des „Berl. Tagebl." (1. Beiblatt vom 29. Dezember v. J.)
unter der Ueberschrift „Der Weg zur Weltanschauung"
Friedrich Dernburg durch die Entdeckung, dass der geniale
Dichter, der, wie kaum ein anderer Zeitgenosse, in seinen
meist kurzen Gedichten tiefe und wahre Gefühle mit stiller,
jede Reklame verschmähender Vornehmheit in eine reine,
höchst feine, überaus zarte Form und in originelle, die
wichtigsten Zeitfrageu immer wieder von einer neuen Seite
beleuchtende Bilder einzukleiden weiss, schon durch sein
lebhaftes Interesse für die übersinnlichen Probleme des
Nobelpreises unwürdig sei. Die fast wie eine öffentliche
Denunziation klingende Anklage lautet wie folgt: „Mit den
Problemen der Weltanschauung war auch das verflossene
Jahr erfüllt, und eine Anzahl unausgetragener Kämpfe und
hallender Schlagworte nehmen wir auch frisch in das neue
Jahr hinüber. Als die schwedische Akademie Sully-Prudhomme
als den leitenden Schriftsteller Europas erklärte, machte
das Feuilleton einige despektirliche Bemerkungen; es zeigte
sich aber, dass selbst dieser Akademiker dritten Ranges
einen Spezialisten in Deutschland hat — für was giebt es
in Deutschland keinen Spezialisten? — und er schrieb einen
gereizten Brief, wie es dem Berliner Tageblatt zur Schande
gereiche, einen Mann wie Prudhomme nicht zu kennen. Nun
ergiebt es sich, dass der poeta laureatus von Europa ein
mehr oder minder verschämter Spiritist ist, der sich von
den Taschenspielerkünsten einer vielfach entlarvten
italienischen Frau Rothe hat einthun lassen. Man möchte
fragen, ob den Vertheilern des Nobelpreises die spiritistischen
Ueberzeugungen Sully-Prudhomme'$ bekannt waren;
denn dass der Poet gerade wegen seiner mystischen Extravaganz
gekrönt wurde, ist doch ausgeschlossen. Diese abergläubische
und schädliche Geistesrichtung verdient keine
Förderung, auch keine indirekte. Die spiritistischen Apostel
werden nicht verfehlen, mit dem Gekrönten Propaganda zu
machen. Man sieht, welch ein Element geistiger Korruption
durch diesen gerühmten Nobelpreis in die Welt eingeführt ist.
Die schwedischen Dichter und Schriftsteller, die ihren Protest
gegen die Krönung Sully-Prudhommefs veröffentlicht, werden An-
lass haben, der Sache auch von dieser Seite näher zu treten.
Höchst merkwürdig bleibt der Vorgang für alle Fälle.
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