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Adolf Kessler: Justinus Cerner und die Seherin von Prevorst. 153
auf ihr und spielte meine Phantasie mit den schönen Umrissen
des Thurmes, mit seinen Steingebilden, grotesken
Köpfen von Thieren und Menschenfratzen, die als Köpfe
von Rinnen aus ihm ragten, und mit seiner künstlich durch-
brochenen Wendeltreppe, die sich um ihn fast bis zu seiner
Spitze mit dem auf ihm stehenden Reiterbilde schlang. Die
vom Monde erhellten Kirchenfenster malte ich mir in Gedanken
selbst mit den buntesten Bildern aus. Nach und
nach gingen aber alle diese Bilder mit mir in Schlummer
und Traum über.
Mir träumte: Ich stand an der vor mir liegenden
Kirche. Es war Mondschein, alles stumm und tot Ich
sah an dem Thurm empor; da sah ich, wie das Steinbild,
das auf seiner Spitze steht, sich bewegte, ja wie es endlich
einen Fuss über den Thurm hin ausstreckte, wie eftist Kaiser
Maximilian auf dem Kranze des Ulmer Münsters. Aber
noch mehr erstaunte ich, als das Steinbild die durchbrochen
daliegende Wendeltreppe des Thurmes sichtbar und hörbar
hinabstieg, immer näher nach unten kam, bis ich endlich
seinen Gang durch die Kirche hörte. Die Thüre der Kirche
öffnete sich und da stand das Bild vor mir, war aber kein
Steinbild mehr, nicht mehr der Ritter (ich hielt dieses Bild
für den Ritter St. Georg), diesen sah ich wieder oben
stehen, sondern es stand mein Bruder Georg vor mir, der
noch lebte und sagte: „Siehe da auf die Uhr, die Böcke
stossen sich zwölfmal, der Hahn kräht und der Engel posaunt,
da war meine Zeit um."
(Mein Bruder Georg starb im Jahre 1812. Der Traum,
der mir ihn auf der Spitze des Thurmes in der Gestalt
jenes Sternbildes, das den Fuss noch über den Thurm hin-
ausstreckte, figurirte, wollte wohl mit sein Leben andeuten,
in dem er so oft Wagnisse begann und auf schwindelnder
Höhe über Abgründen stand.)
Der Traum ging aber noch weiter. Ich trat in die
Kirche; sie war hell vom Monde beleuchtet, und besonders
brannten die Glasgemälde ihrer Fenster in nie gesehener
Farbenpracht. Die Bilder in den Gemälden, die ich auf
ihnen erblickte, waren aber völlig lebend und bewegten sich.
Wie Bilder einer Laterna magica kamen sie, je nachdem
der Mond schien, mir völlig nahe und traten dann in Lebens-
grösse wie von den Fenstern heraus in die Kirche, bald
schwebten sie wieder zurück und wurden klein, doch je
kleiner je heller, lebendiger und beweglicher. Es waren
aber diese Bilder keine Bilder von Heiligen, sondern von
Menschen, die ich noch nie gesehen hatte, die aber in
späteren Jahren meines Lebens und besonders in dieser
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