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158 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 8. Heft. (März 1902.)
Umstände der Aussenwelt nicht allzu gering angeschlagen
werden; denn von Art und Form ihres Einflusses sind die
mancherlei Zustände von Geist und Gemüth, plastischem
und psychischem Wollen in hohem Grade abhängig. Es
heisst also nicht allein, die Seele erziehen, (intellektuell und
religiös, hygieinisch und sozial,) sondern auch die umgebende
"Welt und deren sämmtliche Factoren in naturgemässe Beziehung
setzen zu Individuum und Gesellschaft. Sodann
erst kann die Entwickelung normal sein, das Gute hervor-,
das Böse zurücktreten, wahre Glückseligkeit zur Geltung
kommen und der Plan Gottes mit fortschreitend sich vermehrender
Normalität sich erfüllen.
§ 11. Zunahme geistig-sittlicher Freiheit, correcten
plastischen und psychischen Wollens, umfassender Gesundheit
und wirklicher Herzensgüte kennzeichnet echte Civili-
sation. Solche ist das Ergebniss normaler Entwickelung der
Seele und normalen Einflusses der Aussenwelt auf Individuum
und Gesellschaft. Echte Civilisation ist also nur möglich bei
ungehemmter, naturgemässer, fortschreitender Entwickelung
der Seele, Entfaltung der guten, Erstickung der bösen Keime,
und bei Herstellung günstiger Verhältnisse zwischen umgebender
Aussenwelt und Individuum.
Gute Entwickelung der Seele bedingt gute Ausgestaltung
des Körpers und leibliche Gesundheit. Weil nun in echter
Gesittung die Ausbildung der Seele höchst vortheilhaft ist,
darum sind auch die Formen des Körpers ästhetisch, die
Gesundheit des letzteren bedeutend, die gegenseitige Anziehung
der Geschlechter gross, die Liebe warm und die
Nachkommen recht beschaffen. Darum erhebt sich derartige
Civilisation nicht auf einem Grunde, der mit Lehrbüchern
der Krankheitskunde, egoistischen Nationalökonomie, kriegskundigen
Unwissenschaft und entsetzlichen Quacksalberei
gepflastert, und zeigt nicht Entartung als kennzeichnendes
Merkmal, sondern weist Gesundheit überall auf und lässt
nirgends Carricaturen empor kommen. Die Bannerträger
einer solchen veredelten Gesittung sind ganz so, wie diese
letztere selbst, und die Civilisation verhält sich als treues
Spiegelbild ihrer Bannerträger.
Zustände von krankhafter Störung und Ausartung müssen
nothwendig eintreten, wenn die Seele geläugnet und alles
Gewicht auf den Körper gelegt wird. So wenig leibliche
Wohlfahrt vernachlässigt, ja so intensiv dieselbe gepflegt
werden muss, so schwer rächt es sich, wenn nicht das Lebeu
der Seele zuerst und zuletzt innigst wahrgenommen und
auf das Sorgfältigste gestaltet wird; es rächt sich durch
Walten von Ungesundheit, Unfreiheit, Knechtschaft und
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