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172 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 8. Heft. (März 1902.)
sie ihr ganzes Dasein diesem Leben allein widmen, all* ihre
Energie nur auf dieses verwenden, ohne auch nur einen
Gedanken dafür übrig zu haben, dass noch irgend etwas
anderes, etwas Höheres, etwas Grossartigeres existiren könnte.
Die Wirkung hiervon ist genau ebenso schlimm, als
wenn die Menschen offen ihren Unglauben bekennen; dieser
praktische Unglaube, den sie durch ihr Thun bekennen,
redet lauter als alle Worte. — Bevor ich fortfahre mich
mit dieser speziellen falschen Ansicht weiter zu beschäftigen,
lassen Sie mich Ihnen eine andere anführen, so dass wir
über beide dann zugleich sprechen können. Die nächste
falsche Ansicht — die nächste, meine ich in Bezug auf den
Schaden, den sie anrichtet, — ist der Gedanke, dass man
nichts Näheres von den Zuständen nach dem Tode wissen
könne, eine Meinung, der unsere Dichter und Schriftsteller
häufig genug Ausdruck geben. Sie wissen wie einer der
grössten Dichter vom Tode sprach, — als von der „Grenze,
von der kein Reisender zurückkehrt", eine merkwürdige
Behauptung, wenn Sie an die Thatsache denken, dass in
allen Ländern, von denen wir etwas wissen, und zu allen
Zeiten in der Geschichte, von denen wir in irgend einer
Weise etwas erfahren haben, stets Reisende von dieser
Grenze zurückgekehrt sind. Und doch ist diese Meinung
sehr weit verbreitet, dass nichts Bestimmtes von dort drüben
zu erfahren sei. Dies ist um so eigenthümlicher, da alle
Religionen behaupten, uns etwas über das Leben jenseits
des Grabes lehren zu können, etwas, was der Form nach
gewöhnlich bestimmt genug ist, wenn es auch oft, wie ich
bekenne, nicht gerade wissenschaftlich und wenig befriedigend
lautet. Vielleicht hat an dieser Verschwommenheit und Unbestimmtheit
zum Theil die Thatsache Schuld, dass die
Religionen, die hier im Westen die meiste Achtung haben,
dem Volke in einer* etwas unwissenschaftlichen Ausdrucksweise
dargelegt werden; so ist es dahin gekommen, dass man
meinte, da uns nur gewisse allgemeine Andeutungen über
diese Zustände jenseits des Grabes gegeben werden können,
es wären keine ins Einzelne gehenden Nachrichten darüber
zu haben. Da aber eben diese gegebenen Ideen und Andeutungen
geradezu unvernünftig und unwahrscheinlich
schienen, so hat man den Begriff der Unwirklichkeit mit
diesen Zuständen verbunden, so dass jetzt für die meisten
Menschen ein Eingehen auf etwas Spirituelles, auf etwas,
was zu einer anderen Welt, als der unseren gehört, wie ein
Sprung aus dem Bereich des Sicheren, des Wirklichen in
den Bereich der freien Phantasie erscheint. Es ist dahin
gekommen, dass alle Gedanken über diese Dinge fast aus-
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