http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0206
196 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 4. Heft (April 1902.)
es nicht zu vermeiden sein wird, dass auch Entfernteres,
nicht im unmittelbaren Zusammenhange Stehendes, zur
näheren Charakteristik des Zeithintergrundes wird herangezogen
werden müssen.
A. Von der französischen Revolution (1789) bis asnr
Juli-Revolution (1831).
Der Ausgang des 18. und der Beginn des 19. Jahrhunderts
wird von einem grossen Ereignisse beherrscht: der
französischen Revolution. Diese ist überhaupt eine der
grössten Thatsachen, welche die Weltgeschichte kennt; kaum
eine andere lässt sich ihr vergleichen. Bei der Gründung
oder dem Umsturz von Weltreichen waren sonst Ruhm oder
Herrschgier fast ausschliesslich massgebende Paktoren, selbst
bei Begründung der Weltherrschaft Innocenz III., bei den
Kreuzzügen, ja sogar bei der Reformation, die ja viele
Fürsten, welche in ihr das Mittel zur Bewahrung und Erweiterung
ihrer dynastischen Hausinteressen gegenüber dem
Kaiser erblickten, zu Beschirmern hatte. Bei der französischen
Revolution allein wirkte, in ihrem Ursprünge wenigstens,
die Macht sittlicher Ideen und rein ideeller Triebfedern;
sie ging vom Volke, von dessen Intelligenz aus und wurde
von seiner begeisterten Masse getragen, und sie erklärte
rücksichtslos den Krieg jedem historischen Rechte, das nicht
im Einklänge stand mit der Menschenwürde der Gesammtheit,
mit der Vernunft und der Moral. Sie erklärte, dass Gewalt
und Willkürherrschaft durch die Zeitdauer ihrer Geltung
nicht zu Recht und Gesetz würden, und sie hatte in diesem
Kampfe gegen Selbstherrscher und Privilegirte alle Fürsten
und Gewaltigen Europas gegen sich: den Zar aller Reussen,
wie das kleine Holland, den türkischen Sultan, wie den
römischen Papst. Durch seine allmählich erwachte Intelligenz
erkannte das Volk in den gesellschaftlichen Zuständen, in
denen es leben musste, die Quelle aller Leiden und Uebel;
es erkannte sein Recht, seine Kraft und trat furchtlos und
begeistert in den Streit gegen jede durch Willkür und
Gewalt bewirkte historische Einrichtung um das naturgemässe
ewige Recht: der freien, menschenwürdigen Ausgestaltung
jedes Einzeldaseins. Als halb Europa (1792) seine Truppen
gegen Frankreich marschiren Hess, als der Herzog Ferdinand
von Braunschweig (von Coblenz aus) sein ebenso albernes,
als erbärmliches Manifest vom 25. Juli erliess, worin die
ganze französische Nation wie eine Horde dummer Jungen
behandelt wurde, da war es die „Marseillaise", welche von
Rouget de Liste in der Nacht nach der Kriegserklärung
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0206