http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0210
200 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 4. Heft. (April 1902.)
Der Geistlichkeit gegenüber, der man stets vorgeworfen,
dass sie den Armen gepredigt und mit den Reichen gespeist
habe, wurde das Voltair fache: „Ecrasez l'infamel* befolgt
und es bestimmte schon die Nationalversammlung (von
1789—1790), dass die Priester als Staatsbeamte zu betrachten
und auf die neue Verfassung zu beeidigen seien.
Später nimmt die antireligiöse Richtung eine immer schärfere
Tonart an und Anarcharsis Clootz nannte sich „den persönlichen
Feind Jehova1*)" die Kommune beschloss alle religiösen
Ceremonien, Prozessionen, Wallfahrten, die Feier der Festtage
u. s. f. abzuschaffen. Jede religiöse Autorität, die blos
als drückende politische Fessel empfunden wurde, ward
zertrümmert, Frankreich „dekatholisiri" Kirchen wurden
geplündert, die Glocken in Kanonen umgegossen, die
Heiligenbilder und Kruzifixe aus Edelmetall eingeschmolzen
und zu Münzen umgeprägt, die Reliquien unter Spott und
Hohn verbrannt, und die Flasche mit heiligem Salböl, die
zur Krönung Chlodwigs eine Taube eigens vom Himmel
gebracht haben sollte, von einem Elsässer Namens Rühl in
Rheims zerschmettert. Die eidweigernden Priester wurden
erschossen und erschlagen; z. B. 204 während der Septembermorde
(2.—5. September 1792) im Hofe des Karmeliter-
gefangnisses und in der Abtei St. Firmin, und am 10. November
1793 der Kultus der Vernunft eingeführt Diese systematische
Verfolgung der Priester war aber nicht etwa im Sinne eines
Marat, der Strafen für Verbrechen gegen die Religion und
Gefängnis? für Gottesleugner, die ihre Anschauungen verbreiteten
, festgesetzt sehen wollte. Noch viel weniger aber
im Sinne Maximilian Robespierre9*. Als Schüler Rousseau'*
griff dieser intransigente Idealist im Jakobinerklub offen den
Atheismus an. Er sagte: „Der Atheismus ist aristokratisch.
Der Gedanke von einem grossen Wesen, das über die verfolgte
Unschuld wacht und das triumphirende Verbrechen bestraft,
ist durchaus volkstbümlich. Wenn Gott nicht existirte, müsste
man ihn erfinden." Aus Utilitätsgründen wollte er die Religion
erhalten wissen, da nur sie es ist, welche „ex cathedra"
sprechen und so jede Diskussion über gelehrte Wahrheiten
ausschliessen kann. (Schon Rousseau hatte ja gesagt: „Philosoph
, Deine Moralgesetze sind sehr schön, aber zeige
mir die Weihe, um derentwillen sie dem Volke heilig
8ind.a)
Mit Recht wandte sich Robespierre gegen die Bilderstürmer
und Kirchenzerstörer und meinte, dass derjenige,
welcher verhindere, dass eine Messe gelesen wer,!,, fanatischer
sei, als derjenige, welcher sie lese: „ Was haben die Priester
mit der Religion zu thun?" fragte er; „sie verhalten sich
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0210