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Kessler: Justinus Kerner und die Seherin von Prevorst. 211
Haus und seine *Gästea unter dem Kapitel „Prinz Adalbert
von Bayern" erzählt: „Eine halbe Stunde von Weinsberg
war eine alte Bauernfrau, welche bei dem Landvolk umher
so ziemlich als Hexe galt, aber als eine gutartige. Wenn
etwas abhanden kam, gingen die Leute zu ihr, zur Wasser-
schauerin, wie sie genannt wurde. Sie füllte dann ein Glas
mit frischem Wasser, stellte dasselbe vor sich auf den
Tisch, bestrich es mit ihren Fingern, als ob sie das Glas
magnetisirte, dann starrte sie mit ihren schwarzen, stechenden
Augen mehrere Minuten, oft eine Viertelstunde auf die
glänzende Fläche und sagte dann: „Ich sehe jetzt deutlich,
das Gestohlene ist da und da, so und so versteckt, der
Dieb steht daneben, hat die und die Kleidung, ist gross,
klein, hat schwarze Haare und so weiter." Oft sagte sie
aber auch: „Es ist nicht gestohlen, es ist nur verlegt, es
wird wiederkommen und so weiter." Sie war eine anspruchslose
, bescheidene Frau, verheirathet, hatte Kinder, war
fleissig in Haus und Feld. Trotz ihrer Armuth forderte sie
nie Geld. Häufig traf sie das Richtige. — Nun vermisste
einmal eine alte Gräfin Beroldingen in Stuttgart einen kostbaren
Brillantschmuck, den sie trotz alles Suchens nicht
fand. Durch Emma Niendorf (Frau Oberst v. Suckow, bekannt
durch ihre Bücher „Meine Villeggiatur in Weinsberg", „Lenau
in Schwaben" u. s. w.) hatte sie von der Wasserschauerin
bei Weinsberg gehört und schrieb meinem Vater, sie wisse
fast gewiss, dass ihr Diener, der den Dienst aufgekündigt
habe und mit seiner Geliebten nach Amerika auswandern
wolle, der Dieb sei, jedoch möge er auch die Wasserschauerin
über den Diebstahl befragen. Der Diener habe eine Livree
mit glänzenden Knöpfen, vielleicht könne ihn die Frau an
diesen erkennen. Mein Vater Hess die Frau kommen und
fragte sie: „Können Sie mir vielleicht sagen, wo ein Schmuck
ist, den eine Frau in Stuttgart vermisst?"
Die Frau bestrich: das Glas, schaute lange hinein und
sagte: „Es stellt sich mir im Glase kein Mensch vor, den
ich sehen müsste, wenn ein Schmuck gestohlen wäre; der
Schmuck wird wiederkommen."
„Sehen Sie nicht einen Mann mit glänzenden Knöpfen?"
fragte mein Vater.
„Nein, aber meine Augen schmerzen mich jetzt, ich
will ein frisches Glas Wasser. Jetzt sehe ich etwas Glänzendes,
es ist ein grosses, grosses Wasser weit von Stuttgart, und
nun sehe ich ein Päckchen von gelbem Papier, und da, da
ist der Schmuck, in der Wand drin!1'
Mein Vater schrieb der Frau Gräfin, die Wasserschauerin
habe leider nichts Gescheites gewusst, den Dieb nicht ge-
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