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Kessler: Justinns Kerner und die Seherin von Prevorst. 213
bewohner, wie kalte Fieber, zeigen sich hier nie, aber oft
Nervenzufälle der früheren Jugend, die man bei diesem
kräftigen Menschenschlage »nicht erwartet. So zeigte sich
auf einem mit Prevorst auf gleichem Gebirge gelegenen
Ort (Neuhütte) schon mehrmals unter den Kindern eine
dem Veitstanz ähnliche Krankheit epidemisch, so dass alle
Kinder dieses Ortes zugleich von ihr befallen wurden. Wie
Magnetische bestimmten auch sie die Minute des Anfalles
jedes Mal voraus. Waren sie auf den Feldern, wenn die
von ihnen vorausgesehene Zeit des Anfalles sich nahte, so
eilten sie nach Hause und bewegten sich dann in solchen
Paroxysmen, die eine Stunde und noch länger dauern
konnten, taktgemäss, wie die geschicktesten Tänzer in den
sonderbarsten Stellungen, worauf sie jedes Mal wie aus
magnetischem Schlaf erwachten und sich des Vorgefallenen
nicht mehr erinnern konnten. Dass die Bewohner dieses
Gebirges für magnetische und siderische Einflüsse sehr
empfänglich sind, dafür möchte sprechen, dass unter ihnen,
besonders den Bewohnern von Prevorst, die Kunst, durch
sympathische Kräfte zu heilen und die Empfänglichkeit,
vermittelst solcher geheilt zu werden, wie auch die Kunst,
Quellen durch die Haselnussstaude aufzusuchen, sehr gemein \
ist." So schrieb Justinns Kerner im Jahre 1830. Die ver-J
flossenen 71 Jahre haben an und in Prevorst wenig verändert.
Friederike, die spätere "Seherin, wurde am 23. September
1801 in Prevorst geboren, als Tochter eines Försters.
„Einfach erzogen, an die schneidende Bergluft und an die
auf diesem Gebirge hart und lang dauernde Winterkälte
gewöhnt, nie in Kleidung und Bett verzärtelt gehalten,
wuchs sie als blühendes, lebensfrohes Kind heran und während
ihre Geschwister alle in der Kindheit mit „Gichtern" behaftet
waren, bemerkte man an ihr derlei Zufalle nie. Dagegen
entwickelte sich bei ihr bald ein nicht zu verkennendes
Ahnungsvermögen, das sich besonders in voraussagenden
Träumen kundgab. Trat ihr etwas sehr nahe, erlitt sie
Vorwürfe, die ihr Gemüthsleben aufregten, so wurde sie in
nächtlicher Buhe stets in innere Tiefen geführt, in denen
ihr belehrende, warnende oder voraussagende Traumbilder
aufgingen. So als der Vater einmal einen ihm werthen Gegenstand
verloren hatte und ihr, die unschuldig war, die Schuld -
beigemessen wurde, erschien ihr nächtlich im Traum Ort
und Stelle, wo die verlorene Sache lag/'
Behufs besserer Ausbildung kam Friederike zu ihrem
Grossvater nach Löwenstein, dem Kaufmann Johann Schmid-
gally einem wackeren, einfachen, klardenkenden Manne, von
dem uns im Kerner-H&me mehrere Briefe erhalten geblieben
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