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220 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 4. Heft (April 1902.)
Weltenplans Erfüllung. Darum ist auch fortschreitende
Ausbildung der Seele der Endzweck des Gestaltens und
jede Gestaltung in den stofflichen Kreisen materielle
Bedingung der sittlichen Weltordnung.
Um sittliche Freiheit und Verantwortung zu erhöhen,
müssen Gesundheit, Geistigkeit, Keligiosität und Gesellschaftlichkeit
naturgemäss und harmonisch ausgebildet werden;
durch Praxis umfassender Religion, Hygieine, Erziehung und
Bildung, Einfluss correcten altruistischen Systems der
Wirthschaft und Gesellschaft, Selbstüberwindung, strenge
Selbstzucht. So wird die Seele nicht allein geschickt gemacht,
an den Dingen und Bewegungen des stofflich-organischen
Lebensstadiums sich zu entwickeln, sondern auch für die
zukünftigen (ätherisch- und dynamisch-organischen) Lebensstadien
sich vorzubereiten.
§ 19- Alle beseelten oder individuellen Wesen ohne
Ausnahme haben ganz bestimmte moralische Aufgaben zu
erfüllen, und diese Arbeit fällt in die Breite der sittlichen
Weltordnung. Jede moralische Thatigkeit muss von jedem
Individuum selbst vollbracht werden; kein Individuum kann
hier sich entheben lassen, keines von einem anderen ersetzt
werden. Der Versuch der Substitution, wie derselbe in verdorbenen
Oivilisationen frech gewagt wird, bestraft sich
schwer und zieht Leiden, Uebel, Entartung herbei. Das
Heilbestreben der Natur im Organismus des Einzelnen und
der Gesellschaft bethätigt sich unter allen Umständen und
sucht die Polgen der Fehler wie Unterlassung Einzelner
und ganzer Gruppen auszugleichen; hierdurch aber kommen
Krisen, die zuweilen heftig und von Dauer sind, Jahrhunderte
hindurch nachhalten und das Gute hemmen.
Dies alles jedoch stört die sittliche Weltordnung im
Ganzen nicht; denn, wenn es zweifellos ist, dass eine solche
Ordnung in Wahrheit besteht, kann kein Misston aus irgend
einer Gruppe von Wesen heraus den grossen Verlauf des
moralischen Prozesses abändern; solcher Misston bringt nur
vorübergehend örtlichen Schaden und erregt die beziehungsweisen
zwei-, vier-, sechs-, acht- und tausend-Füsser. Nach
kürzerer oder längerer Zeit rollt alles wieder regelrecht in
den Geleisen der moralischen Weltordnung, weil jede Abweichung
früher oder später gut gemacht wird.
Wenn man (mit mir) das Böse als nothwendiges Neben-
product des Weltprozesses auffasst und als Mittel für die
unvollendeten Wesen, die Bahn des Guten zu erkennen, so
ist das Uebel durchaus nicht gegen die moralische Ordnung
der Dinge, sondern geradezu ein Bestandtheil derselben, und
der Gott gemachte Vorwurf, das Böse nicht anmittelbar zu
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