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272 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1902.)
einen absoluten Souverän — ist ihm ein Leitfaden für die
politische Polizei, ein Mittel zur Unterdrückung der Unter-
thanen; deshalb ist ihm auch die Todesstrafe ein kostbares
Kleinoa, das hauptsächlichste Mittel zur Aufrechterhaltung
der Gesellschaft („ee premier moyen de conservation de la
sociötö").
Francois Bend Vicomte de Chateaubriand (1768—1848)
ist mehr Dichter, Gefühlsmensch als Philosoph, und seine
bleibenden Erfolge liegen denn auch auf dem Gebiete der
Dichtkunst und der ästhetischen Reisebeschreibung. („Atala",
„Rene", „Les Natsehez", „Itineraire de Paris h Jerusalem"
und „Les martyrs, ou le triomphe de la religion chrßtienne.")
Seine Thätigkeit als Staatsmann und seine politische Wandlung
werden wir später (in Theil D) behandeln. Hier sei blos
gesagt, dass Chateaubriand ein katholisirender Reaktionär war,
der mehr rühren, erschüttern, überreden, als überzeugen und
beweisen wollte. Sein schon erwähntes Hauptwerk dieses
Genres ist „Der Genius des Christenthums" („Le genie du
Christianisme ou les beautes de la religion chretienne"), eine
feurige Apologie des Katholizismus. Das Höchste, Grösste,
Erhabenste, was es giebt, ist ihm das Geheimnissvolle
und gerade das, wofür sich kein Beweis beibringen lässt. ist
das Wahre. Gleich Pomponatius lehrt er also eine zweifache
Wahrheit: eine beweisbare (philosophische) und eine durch
Vernunfterkenntniss unbeweisbare (theologische), die ausserhalb
des menschlichen Denkens liegt. Am schroffsten drückt
sich diese Unterscheidung ja in dem bekannten Satze Tertullian's
aus: „Mortuus est Dei filius, credibile est, quia ineptum est;
et sepultus revixit, certum est, quia impossibile," Wie das
Wunder an der Grenze des Möglichen liegt, so liegt das
Mysterium an der Grenze des Begreifbaren: handelt es sich
bei jenem um die Erweiterung physikalischer Naturgesetze,
so bei diesem um die Erweiterung logischer Denkgesetze.
Das Abendmahl, die absolute Monarchie ist nicht zu erklären
, die unbefleckte Empfängniss Mariae, der Krieg
nicht zu vertheidigen: ergo ist das alles ein unantastbares
Mysterium! Die absolute Ehelosigkeit, die Jungfräulicbkeit
ist ihm ein Hauptmerkmal des wahren Christen. Jesus,
von der Jungfrau geboren, stirbt jungfräulich; ja „Gottschöpfer
selbst ist der grosse Einsame des unendlichen
Universums, der ewige Junggeselle (le grand celibataire) der
Welten." Charakteristisch ist es nun, dass Chateaubriand diese
anempfohlene Ehelosigkeit in nationalökonomischer Hinsicht
im Sinne eines Th. R. Malthus verwerthet, der die Lehre
aufgestellt hatte, dass die Bevölkerung eines Landes stets
die natürliche Neigung zeige, sich über die Subsistenzmittel
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