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274 PByohisohe Studien. XXIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1902.)

fortgesetztes Opfer; dem Opfertode Jesu Christi folgten die
Heineren Erlösungen, welche durch ihr Blut das der Nationen
erkauften, und diese Opferung Einzelner für Alle wird sich
wiederholen bis ans Ende der Tage. Nur durch Blut, vergossen
durch Henkershand, Priestershand oder im Kriege,
wird das Heil in die Welt kommen. „La guerre accomplit
la grande loi de la destruction violente des etres vivants. La
terre entiöre, continuellement imbibee de saug, n'est qu'un
autel immense oü tout ce qui vit doit etre immole sans fin,
sans reläche, jusqu'ä la consommation des choses, jusqu'ä
Fextinction du mal, jusqu'ä la mort de la mort" *)

Der Souverän besitzt, nach dem Vorbilde der Gottheit
, dessen Abbild er ist, das fürchterliche Vorrecht,
die Schuldigen zu strafen, und aus diesem entspringt ein
verehrungswürdiges Mirakel: das Amt des Henkers.
De Maistre singt einen dithyrambischen Hymnus auf den
Henker: „alle Macht, alle Grösse, alle Ordnung beruht auf
dem Scharfrichter. Er ist der Schrecken und das zusammenhaltende
Band der menschlichen Gesellschaft. Nimm diese
unfassbare Wirkungskraft von der Erde fort, und im selben
Augenblick ist die Ordnung vom Chaos abgelöst, die Throne
versinken in den Abgrund und der Staat verschwindet. Gott,
welcher der Urheber der Souveränität ist, ist daher auch
der Urheber aller Züchtigung; auf diese beiden Pole hat
er unsere Erde gebaut, denn der Herr ist der Herr der
Pole und lässt die Welt sich um diese beiden drehen."
Trotzdem die Arbeit des Henkers eine „peinliche" zu nennen
ist, ist er doch „ein erhabenes Wesen, der Eckstein der
menschlichen Gesellschaft." Das Mysterium ist der Schlussstein
alles Denkens, das Uebernatürliche ist das Selbstverständliche
, Alles, was sonnenklar ist, ist oberflächlich
und das Irrationale das entscheidende Merkmal der grossen
Wahrheiten. —

Auch bei de Maistre, diesem „päpstlichen Zuavenoberst
der Litteratur", wie ihn Brandes nennt, sehen wir, wie bei
den Zwerggestalten, welche ihn in seinen reaktionären
Bestrebungen bis zum heutigen Tage, den Zeit- und
Staatsverhältnissen angepasst, nachahmen, das Charakteristi-
cum: die Missstände des Staates, die sozialen Uebel, den
Krieg auf göttliche Naturgesetze, auf die Erbsünde zurückzuführen
, dadurch zu rechtfertigen, in ihrer Dauer zu
befestigen und also konsequenter Weise — Jedermann, der
dergleichen aufheben will, als Uebelthäter, Revolutionär

*) Julian Schmidt: „Geschichte der französischen Litteratur seit
der französischen Eevolution 1789", I. Bd. 2., 221 ff.