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284 Payohlsohe Studien. XXIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1902.)
„Mein Vater, der die dem Tode Verfallene nur noch
ungern in Behandlung nahm, hoffte anfangs durch ein rein
ärztliches homöopathisches Verfahren noch einigermassen
zu helfen und sie aus dem somnambulen Zustande herausbringen
zu können, aber immer mehr nahm die Schwäche
zu und stündlich war der Tod zu erwarten. Da vermochte
mein Vater nicht zu widerstehen und versachte als letztes
Mittel den Magnetismus. Gleich nach den ersten Strichen
fühlte sie sich gestärkt, waren ihre Leiden gemindert, konnte
sie sich etwas aufrichten. Nun setzte mein Vater diese
Behandlung fort, sie wurde dadurch immer mehr in die
somnambulen Kreise gezogen, und was sie in diesen Zu-
ständen fühlte, erschaute und sprach, ihr ferneres Leben
und Ende, das alles ist in meines Vaters weit verbreitetem
Buch „Die Seherin von Prevorst" enthalten und genugsam
bekannt. Ich war zehn Jahre ait, als die Kranke nach
Weinsberg kam, und kann mich deshalb noch gar gut erinnern
. Das totenblasse, von Krankheiten und Schmerzen
abgemagerte, feine Gesicht, nonnenartig umrahmt von einem
grossen weissen Tuch, das Haare und Schultern umhüllte,
die grossen, in seltsamem Lichte strahlenden Augen mit
den langen, schwarzen Wimpern und den schön gebogenen
Augenbrauen, die elfenbeinweissen, durchsichtigen Hände
— wer sie einmal gesehen, konnte sie nimmer vergessen,
und ich sah sie jahrelang und täglich. Meine Jugend mochte
machen, dass ich für die Seherin ein kleines Nichts war,
sie konnte meine Gegenwart zu jeder Zeit ertragen. Mein
Kommen und Gehen, allerdings so still als immer nur möglich
, störte sie nicht, und befielen sie Krämpfe oder übergrosse
Bangigkeit, so war ich doch kein zu verachtender
Krankenpfleger. Es that ihr dann wohl, wenn ich meine
Hand auf ihre Stirn legte oder ihr Handgelenke fest um-
fasste oder ihr magnetisirtes Wasser und von ihren Tropfen
— meist Baldrianwasser mit Kirschlorbeerwasser — ein
Löffelchen zu trinken gab.
Gar häufig, wenn mein Vater über Feld zu Kranken
musste und nicht zur gewohnten Stunde die Seherin mag-
netisiren konnte, magnetisirte er mich vor seiner Abreise;
und trat ich dann, mit diesem unwägbaren Fluidum beladen
, zu angegebener Zeit bei der Seherin ein, so war ich
besonders willkommen, ich musste mich still und ruhig an
ihr Bett setzen. Sie fasste fest meine Hand und ich musste
unbewegt ausharren, bis sie das mir anvertraute Fluidum
aufgesogen hatte, ihre Augen sich schlössen, ihre Hände
sich lockerten. Dann stand ich leise auf, schlüpfte zur
Thüre hinaus und Hess mich womöglich den ganzen Tag
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