http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0297
Kessler: Justinus Kerner und die Seherin von Prevorst. 287
beobachten und prüfen konnte, ein reines, frommes Gemüth,
das mit der christlichen Keligion so sehr befreundet
ist, dass mir Personen von diesem Stande nur wenige
der Art bis jetzt vorgekommen sind. Das Ausserordentliche
der Thatsachen ging ja ganz einfach, ungesucht und ohne
Neugierde und Wichtigkeit zu erregen, aus ihr hervor. Sie
sagte blos, was sie sah und hörte, man untersuchte und
fand es wahr. Diese Wahrheit besteht aber nicht bloss
aus dem Munde eines oder zweier Zeugen, sondern aller,
die ich in Weinsberg sprechen konnte. Wie unverdächtig
ist das Zeugniss des Pfarrers Heermann, der an sich selbst
die Realität dieser Erscheinungen nicht nur zwei- bis dreimal
, sondern einundzwanzigmal, wie er in seinem Aufsatze
selbst beschreibt, erfahren hat.
Ich sehe deine Seherin als eine seltene Erscheinung
an, die gekommen ist, uns mit Thatsachen bekannt zu machen,
die wir bisher ungeprüft verworfen haben, und eine Lehre
vorzubereiten, die einst der Welt dadurch nützen wird, dass
sie den Glauben der Menschen mehr zum Evangelium hinführt
. Die Tage in Weinsberg werde ich nimmer vergessen/'
So schrieb Eschenmayer, Professor in Tübingen, unterm
15* August 1827 an den Arzt und Poeten in Weinsberg.
Den Kampf, den das Buch „Die Seherin von Prevorst"
heraufbeschwor, führte Kerner mannhaft und treu und ohne
persönliche Bitterkeit. Wenn er seine Gegner, die ihn einen
Thantasten und noch schlimmer benannten, „Glasköpfe"
titulirte, so darf ihm das weder als Derbheit noch als
Giftelei angerechnet werden. „Was die Seherin aussprach,
ist keine gemachte Philosophie eines gläsernen Verstandes,
es ist Offenbarung innerer Naturanschauung, und daher oft
mit dem Volksglauben und den Eröffnungen eines Plato,
die aus ähnlicher Quelle (der Ahnung und inneren Naturanschauung
) entsprungen sind, sehr übereinstimmend", sagt
er in ruhiger Weise im Vorwort zur vierten Auflage seines
Buches, nachdem die Hiebe von allen Seiten hageldicht auf
ihn niedergeprasselt waren. Der Schild, den er zur Abwehr
vorhielt, waren die von ihm beobachteten und festgestellten
Thatsachen, und wenn er ihn hob, um die Streiche
eines allzueifrigen Gegners aufzufangen, so geschah es mit
jenem gutmüthigen Lächeln und jener Stimmung, welchem
die Strophen entsprangen:
Nanntest eine Leidensbiume mich in deiner Liebe, Freund!
Fühle nichts von solcher Blume, doch du hast es gut gemeint.
Aber immer wird mir klarer, dass ich eine Distel bin.
Eine Distel, üppig blühend, ästevoll und saftig grün.
Was den Glauben mir gegeben, ist, ich sag* dirs traulich still,
Das, dass eine Herde Esel immerdar mich fressen will.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0297