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Kessler: Justinus Kerner und die Seherin von Prevorst. 289
Dort droben im Gebirge, wo rauh der Nordwind weht,
Von reinem Schnee bedecket, ihr stiller Hügel steht.
In üpp'ger Kräuterfülle, bei warmem Sonnenschein
Da legten sie die Hülle, die leichte, leicht hinein.
Da sang ich ihrem Sterben ein Lied aus tiefer Brust,
Da gab ich, ach! ihr Leben — weh! in des Marktes Wust!
Die iTachtigallen schweigen, die Lerche schläft im Thal,
Die Blumen sind erstorben, kalt blickt der Sonne Strahl.
Und jetzt auf ihrem Hügel stellt mancher Bab' sich ein.
Erhebt aus frost'ger Kehle auf ihm ein heiser Schrefn.
Doch sieh! was schwebt dort nieder licht durch die düstre Nacht?
Du bist's! hat dich das Krächzen der Eaben hergebracht? —
„O Freund! der Menschen Wähnen, däö störet nicht mein Licht;
Dein Zürnen und dein Grämen, das lässt mich ruhen nicht.
Ist nicht in dich gedrungen, was ich halb sterbend sprach
An die, die mir im Leben zufügten Kreuz und Schmach? '
„ T Wie soll ich euch denn nennen, ihr, die ihr mich betrübt,
Ich nenn' auch euch nur Freunde; ihr habt mich nur geübt.Ktt
Betrübt musst du auch werden, damit du wirst geübt;
Wer hier nicht hat geduldet, der wird dort nicht geliebt.
Oft sagt' ichs ja hiernieden, dein Glaube ist noch klein,
Lies oft im Buch der Bücher und lass die Menschen sein!44
Und nun zum Schlüsse. Wir wollen die „Seherin von
Prevorst« an ihrem hundertjährigen Geburtstage zu nicht8
anderem gestalten als zu dem, was sie wirklich war, zu
einer Somnambule, deren Natur und Wesen uns ungemein
sympathisch berührt, deren Seele in wunderbarer Keinheit
und Klarheit vor uns liegt. Im Geiste ihres Arztes und
Freundes Justinus Kerner liegt es wohl, wenn wir mit Greith's
Philosophie sagen: „Das Auffallende der Erscheinungen
des somnambulen Nachtlebens, die oft dabei vorkommende
sittliche und religiöse Erhebung des Geinüthes u. a. haben
manche verleitet, ihm eine höhere Bedeutung als dem Tag- ,
leben selbst zu geben. Es gehört aber nur zur Schattenseite
des Lebens, dem Gegenpole der geistigen Unkörper-
lichkeit, der plastischen Erde an. Seine ganze Tendenz ist
die Erhaltung des Individuums oder die Versetzung desselben
in einen möglichst glückseligen Zustand; daher das
Wahrnehmen von Störungen des gesunden Lebens im Organismus
und das instinktmässige Auffinden zweckmässiger
Heilmittel dagegen; daher das ahnende Vorgefühl, welches
auch bei den Thieren die Stelle des geistigen Erkennens
vertritt, daher endlich das Ferngefühl, sowie das Vorhersehen
von Begebenheiten und zwar nur in Hinsicht auf
solche Gegenstände, die mit dem Hellseher in naher Verbindung
stehen und auf das Wohl oder Webe desselben
einen Einfluss ausüben. — Wenn uns sonach schon die
Nachtseite des Lebens, welche der Geist, sich einsenkend
in die Kräfte der Natur, erleuchtet, so ausserordentliche
Erscheinungen offenbart, welche Verherrlichungen wird erst
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