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294 Psychische Studien* XXIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1902.)
meinem natürlichen Zustande. Woher kommt mir die Erscheinung
? was soll sie heissen und warum wiederholt sie
sich immer ganz mit denselben Bildern, derselben körperlichen
Bewegung, derselben Empfindung?" —
Ein mystischer Zustand, während dessen Goethe - was
ja oft genug vorkam — automatisch schrieb, ist in den
„Annalen oder Tag- und Jahresheften" (1818) erwähnt:
„Ein wundersamer Zustand bei hehrem Mondenschein brachte
mir das Lied: Um Mitternacht, welches mir desto lieber
und werther ist, da ich nicht sagen könnte, woher es kam
und wohin es wollte."
Als weiteres Beispiel dafür, dass Goethe es liebte,
mystische Situationen zu schildern, diene ein im ersten
Kapitel des dritten Buches von „ Wilhelm Meistert W ander-
jahren" erzählter, aber nicht weiter aufgeklärter Vorgang:
„... Dies alles gab ihm ein inniges Behagen zur nächtlichen
Ruhe, als er durch den wunderlichsten Laut beinahe er-
schreckt wäre. Es klang aus der Ferne her, und doch schien
es im Hause selbst zu sein; denn das Haus zitterte manchmal,
und die Balken dröhnten, wenn der Ton zu seiner grössten
Kraft stieg. Wilhelm, der sonst ein zartes Ohr hatte, alle
Töne zu unterscheiden, konnte doch sich für nichts bestimmen;
er verglich es dem Schnarren einer grossen Orgelpfeife, die
vor lauter Umfang keinen entschiedenen Ton von sich giebt.
Ob dieses Nachtschrecken gegen Morgen nacbliess, oder ob
Wilhelm, nach und nach daran gewöhnt, nicht mehr dafür
empfindlich war, ist schwer auszumittein; genug, er schlief
ein und ward von der aufgehenden Sonne anmuthig erweckt."
Mystisches Beiwerk finden wir im „Wilhelm Meister"
ferner an der tragischen Geschichte des Harfners und seiner
spätgeborenen Schwester Sperata, mit welcher er, unkund
ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen, die Mignon erzeugte.
Der frühere Klosterbruder Augustin, wie der nachmalige
Harfner hiess, war von seiner Geliebten getrennt und in
das Kloster zurückgebracht worden. Nach heftigen Stürmen,
die sein Seelenleben zu bestehen hatte, war er „in einen
seltsamen Zustand der Ruhe des Geistes und der Unruhe
des Körpers gerathen.... Ausser dieser Sonderbarkeit, dass
er unermüdet im Kloster hin und her ging, sprach er auch
von einer Erscheinung, die ihn gewöhnlich ängstigte: er
behauptete nämlich, dass bei seinem Erwachen, zu jeder
Stunde der Nacht, ein schöner Knabe unten an seinem Bette
stehe, und ihm mit einem blanken Messer drohe. Man versetzte
ihn in ein anderes Zimmer; allein er behauptete, auch
da, und zuletzt sogar an anderen Stellen des Klosters stehe
der Knabe im Hinterhalt." Mag es sich hier immerhin nur
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