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Seiimg: Noch einmal Goethe und der Okkultismus. 295
um das rein subjektive Erlebniss eines Gemüthskranken
handeln, so dünkt mich die Art dieses Erlebnisses doch
bezeichnend genug, um bei meiner Zusammenstellung von
Goethe7^ Beziehungen zum Okkultismus erwähnt zu werden.
Noch merkwürdigere Dinge werden über Sperata berichtet;
von deren Wiedergabe sehe ich jedoch ab, da die Geliebte
Augustinus nachgerade geisteskrank geworden war. Dagegen
verdienen die nach ihrem Tode eingetretenen Ereignisse,
sowie die Art und Weise ihrer Besprechung volle Beachtung.
Durch den Einfluss eines Geistlichen ward sie beim Volke
nicht für eine Verrückte, sondern für eine Entzückte gehalten.
Der Ruf einer Vision, die sie gehabt haben sollte, und
„das ehrwürdige Ansehen, das sie in ihrem Leben genoss,
verwandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Gedanken,
dass man sie sogleich für selig, ja für heilig halten müsse.
Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele
Menschen mit unglaublicher Heftigkeit hinzu: man wollte
ihre Hand, man wollte wenigstens ihr Kleid berühren. In
dieser leidenschaftlichen Erhöhung fühlten verschiedene
Kranke die Uebel nicht, von denen sie sonst gequält
wurden; sie hielten sich für geheilt, sie bekannten's; sie
priesen Gott und seine neue Heilige. Die Geistlichkeit
war genöthigt, den Körper in eine Kapelle zu stellen; das
Volk verlangte Gelegenheit, seine Andacht zu verrichten.
Der Zudrang war unglaublich; die Bergbewohner, die ohnedies
zu lebhaften religiösen Gefühlen gestimmt sind, drangen
aus ihren Thälern herbei; die Andacht, die Wunder, die
Anbetung vermehrten sich mit jedem Tage. Die bischöflichen
Verordnungen, die einen solchen neuen Dienst einschränken
und nach und nach niederschlagen sollten, konnten
nicht zur Ausführung gebracht werden; bei jedem Widerstand
war das Volk heftig und gegen jeden Ungläubigen
bereit, in Thätlichkeiten auszubrechen. Wandelte nicht
auch, riefen sie, der heilige Borromaus unter unseren Vorfahren
? . . . Und hat Gott nicht zugesagt, unter einem
gläubigen Volke seine Wunder stets zu erneuern? — Als
der Körper nach einigen Tagen keine Zeichen der Faul-
niss von sich gab und eher weisser und gleichsam durchsichtig
ward, erhöhte sich das Zutrauen der Menschen immer
mehr, und es zeigten sich unter der Menge verschiedene
Kuren, die der aufmerksame Beobachter selbst nicht erklären
und auch nicht geradezu als Betrug ansprechen konnte."
Auf Goethe's Geneigtheit, das Wunderbare für möglich
zu halten, ist es sicherlich zurückzuführen, dass er — gleichwie
er in die „Italienische Reise" die Geschichte des heiligen
MlippoNeri eingeflochten und mit zustimmenden Bemerkungen
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