http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0330
320 Psychische Studien. XXIX, Jahrg. 5. Heft. (Mai 1902.)
verlangt Erhaltung des Lebens, wo jenes „nichts weiter zu erblicken
vermag, als die unnütze Verzögerung einer Katastrophe, die doch
einmal mit unfehlbarer Sicherheit stattfindet.41 Weil aber die Natur
in ihrem ganzen Entwicklungsprozesse darauf hinzielt, die absolute
Macht des unbewussten Willens zu brechen und die bewusste Entscheidung
des Menschen an Stelle der Entscheidung des Schicksals
zu setzen, so wird das Gebiet des Tragischen mehr und mehr
beschränkt. Wohl ist es schöner, für ein immanentes Schicksal
zu sterben als dafür zu arbeiten, schöner auch, dem Alter und der
Traurigkeit des Todes zu entfliehen durch schnelle Hingabe in der
Vollkraft des Lebens, — aber ästhetische Normen können nicht
.Daseinsprinzipien sein; wer mit triedr. Nietzsche eine neue Herrschaft
der Instinkte als übermenschliches Daseinsziel proklamirt,
sucht den Weltprozess zurückzuschrauben. Der hierin bekundete
sittliche Standpunkt des Verfassers wird rückhaltloser zu billigen
sein als der metaphysische. Wernekke.
Die letzten Gedanken Immanuel Hanfs. Der Transseendental-
Philosophie höchster Standpunkt: Von Gott, der Welt und dem
Menschen, welcher beide verbindet. Aus Kant's hinterlassenem
Manuscript von Albrecht Krause. Hamburg, Verlag von C. Boyseti.
1902 (132 S. gr. 8°.)
Nach Kuno Fischer kommt es weniger darauf an, was Kant
nachträglich sagt, als was er in seiner Kritik der reinen Vernunft
einmal für immer gesagt hat. Bei aller Anerkennung von Fischelns
Arbeit kann man darüber zweifelhaft sein, wie weit dieser Satz
berechtigt ist; und selbst wer für die früheren Schriften kanüs die
WerthschätÄung nicht theilt, die z. B. du Frei für die „Träume eines
Geistersehers" zu wecken versucht hat, wird den nach kritischen
Arbeiten die gebührende Beachtung nicht versagen, besonders wenn
sie ausdrücklich als deren Fortführung gedacht sind. Dazu gehört
das Werk vom Uebergange von den metaphysischen Anfangsgründen
der Naturwissenschaften zur Physik, welches Reicke aus Kant's nachgelassenem
Manuscript veröffentlicht und A. Krause ausführlich beleuchtet
hat. Letzterer verbreitet sich nun im vorliegenden Buche
über den Best jenes Manuscripts, worin nicht in zusammenhängender
Darstellung, sondern nur in Aphorismen „ein System der reinen
Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe* vorbereitet ist. Nach des
Verfassers Darlegung geht die echte Kanfsche Erkenntnisslehre
dahin: Es besteht eine Welt der Gegenstände an sich (nicht der
„Dinge an sich11, von denen wir nichts wissen können). Sie haben
die Eigentümlichkeit, dass sie empfunden werden, also mit den
Bedingungen der Empfindung zusammenhängen. Sie existiren neben
den Vorstellungen, nicht ausserhalb derselben, da sie eben deren
Bedingung sind. Sie existiren nicht als Vorstellungen, aber sie
können vorgestellt werden; und sie existiren, unabhängig davon,
ob sie vorgestellt, angeschaut oder gedacht werden. Damit wird
die Behauptung hinfällig, dass die Welt erst dann entspränge, wenn
Sinne vorhanden wären, sie anzuschauen, und dass es hinter ihr
eine Welt gäbe, die an sich existirt, aber uns unbekannt bleibt,
weil sie keine der Qualitäten hat, die durch die Anschauung der
Sinne erzeugt sind. Es kommt also das zweite Postulat des empirischen
Denkens zu voller Geltung: Was mit den materialcn Bedingungen
der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist
wirklich. — Dies wird vom Verfasser in einer Untersuchung entwickelt
, von der man wohl sagen darf, dass sie so klar ist, als es
bei der Schwierigkeit des Gegenstandes erwartet werden darf. Nicht
genügend klar tritt jedoch das Verhältniss seiner Darstellung zu
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0330