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350 Paycbisohe Studien. XXIX. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1902.)
Ereignisse. Selbst Zeitereignisse deutet die Sage aus
der Konstellation gewisser an sich unbedeutender Vorgänge
voraus. Für einen Forscher der Sagen und Sitten wäre
es daher eine dankbare Aufgabe, in diesem Sinne manchem
Volksgebrauche und sogenannten „Aberglauben" auf den
Grund zu gehen. Er würde allerdings zunächst die Entdeckung
machen, dass das, was in der einen Gegend für
eine gute Vorbedeutung gilt, in einer andern Landschaft
gerade für etwas Böses ausgelegt wird. Das soll ihn aber
nicht abschrecken, beweist es doch aufs Beste die vorangegangenen
Ausführungen.
Solche Symbole sind naturgemäss aus der Erfahrung
angenommen worden, hin und wieder mögen sie auch das
Produkt rein sinniger Betrachtung gewesen sein, bis dann
ein „Fall" eintrat, wodurch das Symbol praktischen Werth
gewann. Vielfach hat es die Religion verstanden, für sich
diese Symbole zu verwerthen. So kommt es, dass sie, trotz
der späteren Verwandlung der Deutung durch die christlichen
Priester, ihre Wirkung behielten. Andere dagegen haben
jedoch ihre ursprüngliche Bedeutung bewahrt. Mit einer
heiligen Scheu ist diese von Generation zu Generation überliefert
worden, und alle vernünftigen Vorstellungen und Ermahnungen
von seiten der Priester und Lehrer und sonstige
Aufklärungsversuche sind fruchtlos geblieben. Und wie
mancher, der sie mit dem Munde verwirft, bewahrt sie
treu mit dem Herzen. Der Glaube ist es, der die Symbole
wirksam macht. Sie müssen so fest eingeprägt sein, dass
sie als Suggestion in der Seele des Individuums fest
wurzeln. Die Anhänger Hudsoris werden sagen, es ist
die Sprache des subjektiven Egos. Es ist aber nicht noth-
wendig, deshalb ein doppeltes Ich zuzugeben, wenn man
die Annahme eines aussermenschlichen Willens für die
Koineidenz eines Geschehnisses der angeführten Art ausschalten
will.
Wenn wir davon abstrahieren, den Bewusstseins-
mechani8mus als alleinigen Apparat zur Realisirung der
psychischen Energie zu betrachten, so müssen wir zugeben,
dass das Individuum auch auf andre Weise als nur durch
Vermittlung des Nervenapparates auf Körper einzuwirken
vermag. (Animismus.) Derartige Wirkungen werden, wenn
sie auf aussermenschliche Körper sich erstrecken, unserm
Bewusstsein einen fremden Einfluss vortäuschen, da unsere
Sinne eine Beziehung zu dieser Wirkung nicht wahrnehmen.
Es ist darum nicht unwahrscheinlich, dass der Kanarienvogel
nicht unter dem Einfluss des Willens der abwesenden
Person stand, sondern die Vorahnung der anwesenden
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