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370 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 6, Heft. (Juni 1902.)
die noch hier auf Erden weilen, wirken auf ihn und helfen
ihm. Es ist ein grosses und edles Werk, das die katholische
Kirche verrichtet, und wir, die wir bei der sogenannten
„Reformation" manches aus unserem religiösen Leben ab-
gethan haben, was nach den verschiedensten Richtungen hin
korrumpirt war, haben auch mit dem zugleich vieles fortgeworfen
, dessen Verlust wir seitdem stets empfunden haben,
vieles was wir hätten beibehalten sollen, und was wir nun
hoffentlich nach und nach allmählich wieder gewinnen werden
und dann ohne die Korruption. Doch Europa, und ich denke
auch Amerika verdankt dieser Kirche viel, die durch die
Zeiten des Zweifels und des Unglaubens hindurch grosse
Genossenschaften von Menschen aufrecht erhalten hat, die
ihr ganzes Leben dem selbstlosen Gebet für die Todten
widmen.*) Das ist eine grossartige Kraftwirkung, die denen
geholfen hat, die hinüber gegangen sind, welche der Idee
der Wiederverkörperung nach also uns allen geholfen hat.
Aber es giebt noch andere Irrthümer in Bezug auf den
Tod. Wir sind so sehr geneigt, zuviel aus dem Tode zu machen,
ihm eine ganz ungebührliche Wichtigkeit beizulegen. Man
denkt sich das menschliche Leben wie eine gerade Linie,
die bei der Geburt beginnt und beim Tode endigt. Das ist
kein passendes Bild. Nach der theosophischen Lehre ist es
eher ein grosser Kreis, ein grosser Bogen, auf dem das
unsterbliche Ego, die Seele des Menschen sich hinunter zur
Verkörperung auf die physische Ebene begiebt und allmählich
von hier aus wieder durch die anderen Welten hinaufsteigt.
Danach ist das physische Leben des Menschen wie ein
kleines Segment des ganzen Kreisbogens, und des Menschen
Geburt und Tod sind nur die Punkte, wo die Kurve die
gerade Linie schneidet, die diese Ebene von den höheren
trennt; nicht gerade sehr wichtige Punkte alles in allem.
Weder Geburt noch Tod ist der wichtigste Augenblick in
des Menschen Dasein, sondern man könnte eher sagen, der
Punkt im Kreise, der am weitesten von seinem Anfang entfernt
ist, astronomisch ausgedrückt das Aphelium der Seele
auf ihrer Balm; der Punkt, wo ihr Lauf sich wendet und
*) Ueber diese Frage kann man u. K, auch wenn man nicht auf
einem konfessionellen Standpunkt steht, eben aus Gründen des Xultur-
fortschritts, der durch ein unthätiges, nur der Beschaulichkeit gewidmetes
Mönchsleben noch nirgends gefördert wurde, wohl auch
anderer Ansicht sein, ohne deshalb mit den theosophischen Grundsätzen
der auf die Evolution folgenden Involution in Konflikt zu
geraden. — Red.
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