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378 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1902.)
daher dem genannten Forscher zufolge nachstehende Ent-
wickelungsreihe: kosmische Zahl, magische Zahl, blosse
Gebrauchs- oder Lieblingszahl. — Eine ähnliche Entwicklung
lässt sich auch für andere Zahlen nachweisen, so besonders
für die Zahl 9 (3 x 3), der bei den Griechen eine mystische
Bedeutung zugeschrieben wurde, die dorthin wahrscheinlich
in unbekannter Zeit von Aegyptern hergebracht wurde. Nach
v. Andrian kennen primitive Völker, wie zum Beispiel die
Indogermanen, die von höheren Kulturströmungen unberührt
geblieben sind, überhaupt keine Zahlenmystik, die
erst im späteren Verlauf der Religionseutwickelung mit
zunehmender Deutlichkeit hervortritt. So spielt, abgesehen
von dem bekannten Zwölfgötter System der Griechen
und der Römer, das wahrscheinlich mit den zwölf Thierbildern
des sog. Zodiakus zusammenhängt, bei allen von
den Indogermanen sich abzweigenden Völkern die Dreizahl
offenbar die wichtigste symbolische Rolle, indem sie den
Begriff der Versöhnung, bezw. der Ausgleichung
des durch die Zwei gegebenen Dualismus (im Sinn eines
Gegensatzes) versinnbildlicht, wie z. B. der Kontrast zwischen
Mann und Weib durch das die Eigenschaften beider in sich
vereinigende Kind gleichsam ausgesöhnt wird. So finden
wir schon bei den alten Indern in der Weiterentwickelung
der vedischen Götterlehre zur späteren Volksreligion die
Trimurti von Brahma (das ürwesen), Wischnu (der Erhalter
) und Siva (der Zerstörer); bei den Römern, im ältesten
Tempel auf dem Kapitol zusammenverehrt, Jupiter, Juno
und Minerva, und bei den Griechen, schon bei Homer bei
Opferhandlungen gewöhnlich zusammen angerufen: Vater
Zeus und Apollon (sein Lieblingssohn und durch sein Orakel
zu Delphi zugleich Vermittler zwischen seinem Vater und
den Menschen) und Pallas Athene (= Minerva, als Göttin
der Weisheit und der Strategie, der nach dem Mythus
unmittelbar aus dem von Hephaistos-Vulkan gespaltenen
Haupt des Zeus hervorgegangene göttliche Geist), eine Idee,
die sichi dann weiterhin im Christenthum zu der diese
„positive Religion" von dem strenger monotheistischen
Judenthum und Islam unterscheidenden Triuitätslehre ausbildete
und ihre Fortwirkung in den verschiedensten Formen
— wir erinnern nur an die i/on Hegel mit viel Geist durchgeführte
Dreitheilung aller kulturgeschichtlichen Entwicklung
in Thesis, Antithesis und Synthesis — bis auf den heutigen
Tag erhalten hat.
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