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Dank mar: Geistige und soziale Strömungen etc.
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hört auch jenen tief klagenden Laut der ängstlich harrenden
Kreatur:
„Es geht ein allgemeines Weinen,
So weit die stillen Sterne scheinen,
Durch alle Adern der Natur.
Es ringt und seufzt nach der Verklärung,
Entgegenschmachtend der Gewährung •
In Liebesangst die Kreatur" —
singt Friedrich v. Schlegel Die Sehnsucht suchte das goldene
Zeitalter der Natur, in der diese zumal Freundin, Trösterin,
Priesterin und Wunderthäterin gewesen war. Unter Geringschätzung
aller empirisch-rationellen Wissenschaften suchte
man, kraft der Intuition, die verborgenen Geheimnisse der
Natur zu enträthseln. Man suchte in die erhabenen Träume
der Natur, „deren Erwachen der Mensch ist," durch die
Poesie der schmerzensfrohen Sehnsucht einzudringen, als
Schlüssel die „blaue Blume" in der Hand, welche die Pforten
dss Paradieses eröffnen sollte, und man gab der endlich
verrinnenden Zeit die graue Ewigkeit zum Gegengifte.
Zu seiner Blüthezeit ebenso überschätzt — wurde er
doch Goethe gleichgestellt — als heute, vor Allem deshalb, weil
ihn Wenige lesen, unterschätzt, ist das sogenannte Haupt
der romantischen Schule: Johann Ludwig Tieck, der, als greiser
Patriarch, diese überdauernd, achtzigjährig am 28. April 1853
starb. Die deutsche Litteratur verdankt Tieck ausserordentlich
viel, freilich am wenigsten in seiner Eigenschaft als
Glied der romantischen Schule. Tieck, der Sohn eines
wohlhabenden Berliner Seilermeisters, war ein frühreifes,
dichterisch vielseitiges und begabtes Genie, das meist ungebunden
und ohne feste Anstellung den Typus eines
Litteraten im guten Sinne des Wortes repräsentirt. Er, der
Busenfreund Wackenroderh, des „kunstsinnigen Klosterbruders
", welchem die Begriffe von Kunst und Religion in
einander verrinnen, hatte in seiner Jugend im Solde des
alten Nicolai, des Apostels seichten Aufklärichts, gestanden
und sich mit seinen sogenannten „Straussfedergeschichten"
an dessen Rationalismus betheiligt. Und wirklich schwankt
Tieck auch sein ganzes Leben zwischen Rationalismus und
Mystizismus hin und her. Mit seinem „William Lovell" (1795),
verschiedenen Märchen, worunter auch die beiden dramati-
sirten Satiren: „Der gestiefelte Kater" und „Prinz Zerbino"
sind, und „Franz Sternbald's Wanderungen", einem Künstlerroman
, der in die Welt der altdeutschen Meister einführen
sollte, eröffnete Tieck so recht die Periode der deutschen
Romantik, welche offiziell im Sommer 1798 als eine „kritischpoetische
Genossenschaft" mit den beiden Brüdern Schlegel
gegründet wurde. Ihren Namen erhielt sie von einer 1799
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