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410 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1002.)
In politischer Hinsicht ist der Herr Amtshauptmann des
Salinendepartements natürlich Rückschrittler. Er will alles
mystisch behandelt sehen: „die Religion, die Liebe, die Natur,
den Sta#t." Der Monarch ist ihm kein Bürger, kein erster
Beamter, sondern der König ist ein „zum irdischen Fatum
erhobener Mensch." Ferner; „Mit Recht widersetzte sich das
weise Oberhaupt der Kirche frechen Ausbildungen menschlicher
Anlagen auf Kosten des heiligen Sinnes, und unzeitigen
, gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens/'
Novalis wurmt es, dass man öffentlich behaupten dürfe, die Erde
sei ein unbedeutender Wandelstern, da dadurch der Mensch
die Achtung vor seiner himmlischen Heimath verliere. In
„Ofterdingen" ruft der Protestant Novalis aus: „Ja, es waren
schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land
war, überall eine Christenheit, ein grosses, gemeinschaftliches
Interesse, ein Oberhaupt! Die Allgegenwart des Katholizismus
im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität,
die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche
Mittheilsamkeit, seine Freude an der Armuth, sein Gehorsam
und seine Treue, machte ihn als echte Religion unverkennbar
.44 (Cfr. dazu im selben Roman I, 8. Kapitel das Gespräch
Heinrichs mit Klingsohr, mit welchem Goethe gemeint ist,
über den Krieg). — Novalis9 Hauptwerk ist sein Roman
„Ofterdingen44, der leider Torso geblieben ist; er ist im be-
wussten Gegensatze zu Goethe'% „Wilhelm Meister" geschrieben
und enthält die „Metaphysik der Romantik44, wie Kettner
sagt, welche Alles in Kunst auflösen will: die Zeit in die
Ewigkeit und die Welt im Gemüthe. Was Beatrice für Dante
ist — geistige Führerin — ist Heinrich für Sophie, (Mit dieser
ist Sophie v. Kühn, Stieftochter des Herrn v. Roggentin auf
Grüningen gemeint, die Braut Hardenberges, welche schon
fünfzehnjährig, am 19. März 1797 starb.) Im I. Kapitel
dieses Buches träumt Heinrich seinen Traum von der
„blauenBlum e." „Was ihn aber mit voller Macht anzog,
war eine hohe, lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle
stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte.
Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben,
und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er aber sah
nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit
unnennbarer Zärtlichkeit.44 Seitdem ist das Suchen nach der
„blauen Blume44, als Sehnen ohne Rast und Ruhe, das
Hauptcharakteristicum aller Romantiker geworden
, in ihrem magischen Kreise athmen sie alle. Die
„blaue Blume44 ist nichts bestimmt Greifbares, nichts
Dauerndes; nähert man sich ihr, so verwandelt sie sich; es
ist das Glück, das keines mehr ist, wenn man es erreicht.
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