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430 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1902.)
erfassen. Die psychische Forschungsmethode wird sich, so-
weit ich es im Augenblick übersehen kann, dabei dreier
ineinandergreifenden Verfahren zu bedienen haben: der
Selbstbeobachtung, des kritischen Versuches an der eigenen
und an fremden Psychen und der Psychotechnik, worunter
ich die Anwendung der gewonnenen Erkenntniss auf diesem
Gebiete verstehe. Als ein Beispiel, wie man durch die genaue
Beobachtung und das Experiment eine psychische Erscheinung
erfassen kann, möge die nachfolgende Studie dienen, welche
das von vielen Tausend Menschen im Geheimen ausgeübte
„Gedankensehreiben" betrifft.
Der Zufall hat mich zu demselben geführt. Mein Ziel
war Anfangs ein ganz anderes; denn in der Meinung, dass
bei den okkultistischen Vorgängen Gedankenübertragungen
eine Rolle spielen, war ich schon längere Zeit bemüht, mir
durch Versuche Klarheit über diese hypothetische Erscheinung
zu verschaffen. Halb aus Laune, halb im Ernst setzte ich
mich nun eines Tages hin, nahm einen Bleistift in die Hand
und Hess seine Spitze auf dem Papier ruhen. Ich dachte:
vielleicht erfolgt ein Zeichen. Etwa 20 bis 30 Minuten sah
ich die Spitze des Bleistiftes nur unregelmässige kleine Bewegungen
machen. Dann kam es mir vor, als wenn der
Stift unter einem gewissen Zwange Bewegungen ausführe,
und kurz nachher, nachdem ich den ruhenden Unterarm
gehoben und für die Bewegung frei gemacht hatte, zog er
in raschen Bewegungen eine Kette von Schlingen über das
Papier, wobei der Unterarm ihn ohne mein Zuthun, aber
deutlich wahrnehmbar führte. Bald kam es mir vor, als
seien diese Schlingen Buchstaben, und ich las daraus, was
ich erst für ein Spiel der Phantasie hielt, die Worte:
Mannheim, Sokrates und andere. Dann kam das Wort:
Schreibma . . . und gleich darauf in grossen, deutlichen
Schriftzügen der Name Hedwig Lehmann, Reichenberger-
strasse 142. Man kann sich denken, dass ich über diesen
raschen Erfolg hocherfreut war. Ich bat nun Fräulein Lehmann,
mir zur Bestätigung ihres wirklichen Daseins eine Postkarte
mit einigen Worten zu schicken. Natürlich befand ich mich
in dem Glauben, eine Dame habe zufällig die drahtlose
Gedankenverbindung mit mir erlangt und drahte mir auf
diesem Wege ihre Adresse zu, um auch ihrerseits sich von
der Realität ihres Korrespondenten zu überzeugen. Sie sagte
gern zu und bat ihrerseits, ich solle ihr einige der Blätter,
die ich beschrieben, zusenden und zwar durch Eilbrief. Die
versprochene Postkarte kam nicht an, der Eilbrief kam als
unbestellbar zurück. In der weiteren Korrespondenz brachte
sie nun allerhand Ausflüchte vor, warum sie mir keine
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