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Kurze Notizen. 447 *
Tag und Nacht gewissermassen von einem Spuk verfolgt zu
sein. Eine Tochter der Verstorbenen bestätigte, ihre Mutter
habe ihr gesagt, wenn sie dem Wahrsager kein Geld gäbe,
so würde er sie alle in eine Irrenanstalt schicken oder sie
umbringen oder zu Tode quälen. Der Besuch bei dem
Wahrsager war 15 Jahre vorher in Gesellschaft der ür-
grossmutter der Zeugin des Falls gemacht worden und von *
jenem Augenblick an war die Verstorbene fortwährend in
einem Zustand äusserster Seelenqual gewesen. Diese ganze
Zeit hindurch hatte sie dem Mann Geld geschickt. Der
Gerichtshof stellte in seinem Wahrspruch Selbstmord in
Folge von Geistesstörung fest. (Im englischen Originaltext
eingesandt von Dr. Ä-Ä)
c) Der 200jährige Geburtstag Fr. Chr. Oetingerh,
eines berühmten württembergischen Theologen und Theo-
sophen, entfiel auf den 6. Mai 1902: Oetinger, geb. 1702 zu
Göppingen, besuchte die Klösterschulen in Blaubeuren und
Bebenhausen. Während seiner Studienzeit im Stift hatte sich
Oetinger} von der zeitgenössischen Leibnitz- Wolff'sehen Philosophie
unbefriedigt, bereits der Mystik zugewandt. Insbesondere
wurde er von Jakob Böhme stark beeinflusst. Nach
beendigtem Studium war er viele Jahre auf Eeisen in Norddeutschland
und weilte u. a. längere Zeit in Herrnhut bei
dem Grafen Zinzendorf. Oetinger hat sich, wie der Württ. s
„St.-A.u bemerkt, mit allen separaten Strömungen der
damaligen Zeit tief eingelassen, und das brachte ihn in »
manchen Konflikt mit der obersten Kirchenbehörde. Er
erfreute sich indes des Schutzes des Herzogs Karl, der ihn
wegen seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse, insbesondere
in der Chemie, hochschätzte. Der Gunst des Herzogs verdankte
er auch seine Ernennung zum Prälaten in Murrhardt
(17G6), nachdem er zuvor Pfarrer in Hirsau (1738), in
Schnaitheim bei Heidenheim, in Walddorf bei Tübingen und
„Spezial" in Weinsberg und Herrenberg gewesen war. Oetinger
stand in einem nahen Verhältniss zu Bengel und hat seinerseits
auf den ganzen Pietismus einen jetzt noch fortdauernden
Einfluss gehabt. Von seinen Schülern darf der Tübinger
Theologe Tobias Beck genannt werden, seine Theosophie hat
auch auf den Philosophen Schelling eingewirkt. Oetinger}s [
Schriften sind ungemein zahlreich (an die 70), seine Predigten
sind mit Philosophie und Theosophie gesättigt; seine Persönlichkeit
, in der sich Eigenart und Geist mit Starrsinn, tiefe
Frömmigkeit und sittlicher Heroismus mit einer gewissen
Regellosigkeit vereinigte, genoss des grössten Ansehens auch
bei ausgezeichneten Zeitgenossen. Schubart nannte ihn, als
sich bei der Einweihung der Hohen Karlsschule (1782) die
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