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Litteraturberioht
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damit ihr Heiligstes verrathen hat Mit dem siegesstolzen vernichtenden
Vorwurf: „Nicht liebende Treue, nicht Sympathie verknüpft
Dich und was Deiner Lehre ist zum liebenden Geschöpf!
Ich, Dein Weib, bin Dir nur ein Futteral zur Erzeugung Deiner
Drachenbrut", und mit dem Fluch: „Lebe"! erschiesst sie sich mitten
im Freundeskreis, während Werner ohnmächtig zusammenbricht und
Sonnemann im Verein mit dem alten Christen dem abgeirrten Geist
des Freundes Hilfe zu bringen und dieser armen Seele unter dem
auch im Dunkel leuchtenden Sinnbild des im Hintergrund sichtbaren
Kreuzes Euhe zu schaffen sucht. — Wir können dem Herrn
Verleger zum Erwerb dieses sicher epochemachenden Werkes, das
jeder mit sozialen und übersinnlichen Problemen sich befassende
Denker mit Hochgenuss lesen wird, nur aufrichtig Glück wünschen.
Die MittagsQöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart
. Von WUhelm Bölsche. 2. Aufl. Verlegt bei Eugen Diederichs
Was der Titel dieses vielgelesenen Romans besagen soll, erfahren
wir aus dem Munde der Hauptfigur desselben, des »spiritistischen
" Spreewald-Grafen, welcher einer altwendischen Volkssage die
folgende geistvolle Deutung giebt: ,In dem verschlagenen Wendenreste
, der hier wohnt, lebt noch eine eigenartige Natursage, die sich
aufs engste gerade dieser Oertlichkeit (dem Spreewald, in dessen
friedliche Stille sich die Denker und Dichter aus dem nervenzerrüttenden
Getümmel der Eeichshauptstadt mit Vorliebe flüchten)
anschliesst: Die Sage von Pschipolniza, der Mittagsgöttin. Wenn
um die Mittagsstunde die glühend heisse Sonne brennt, naht sich
dem habgierigen Bauern, der auch in dieser Zeit der Ermattung und
des grossen Naturschlafes sich beim Flachsbau müht, eine weisse
Gestalt, ein wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranze,
eine goldene Sichel in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der
Mittagsstille. Sie legt ihm Fragen über sein Werk vor, und wenn
er nicht antworten kann, haucht sie ihn an, dass erkrank wird, oder
würgt ihn zu Tod«.. Ein skeptischer "Rationalist mag die Entstehung
der Sage so deuten, dass man den Bauern tot, vom Hitzschlag weggerafft
, im Felde gefunden hat. Der Wasserdampf, der hier ja that-
sächlich bei jeder Gelegenheit aus dem Boden qualmt, könnte sich
der Phantasie zur weissen Gestalt formen, und zu Halluzinationen
neigen ja überhaupt alle Völker der Einöde. Ich will im Augenblick
nicht für die Eealität umgehender Spreewald-Gespenster eintreten
; ich will nur sagen, dass ich von meiner Kindheit an, wo ich
die Sage zuerst vernommen, die ganzen Knabenjahre hindurch keinen
Miss-schauerlicheren Wunsch kannte, als dem mystischen Phantom
einmal selbst zu begegnen. Später, als ich geistig so müde und einsam
durch die grosse Weltenwüste pilgerte, ist es mir bisweilen vorgekommen
, als enthielte die Sage eine tiefe Allegorie auf alle übertriebene
Arbeit in der Welt. Ich hatte wohl die Idee, auch wir
heute in unseren modernen Verhältnissen mühten uns alle, mit der
sengenden Zenith-Sonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag der
Menschheit, und die Wissenschaft, die als verschleiertes Bild uns
dabei naht und die Frage nach Leben und Tod stellt, sei in Wahrheit
auch nur ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden, Lechzenden
den Hals umdreht, anstatt ihn zu erquicken. Heute glaube
ich eher, es kommt, wie in der Sage selbst, so auch bei uns im
Leben, hauptsächlich auf die Antwort an, die man der Göttin giebt.
Weiss man die rechte, so ist die Fragerin kein böses TJngethüm
Frilz Freimar.
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