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498 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 8. Heft. (August 1902.)
Alle Kosmen dienen Individuen in unermesslicher Zahl
als Mittel der Vervollkommnung, und die moralische und
physische Perfection der Individuen macht Regelmässigkeit
der sittlichen Weltordnung, welche, wenn auch nur mittelbar
, doch beträchtlichst Einfluss übt auf die physische
Ordnung in den Kosmen. Dies alles erweist sich als bedingungslos
nothwendig, wenn höhere Vollendung irgendwie
und irgendwo zu Tage treten soll.
Gäbe es nur physische Weltordnung, so wäre Schöpfung
von Individuen, gleichwie Einsetzung von Zeugung und
Vermehrung, völlig nutzlos gewesen Gäbe es nur moralische
Weltordnung, so wären die Seelen als pure Geister
geschaffen und der Fortpflanzung überhoben worden. Da
indessen jedes Individuum als Seele sich erweist, die in
allen Stadien der Entwickelung einen Organismus bildet
und von diesem allseitig abhängt, während der Leib in
allen Stücken wieder von der Seele abhängig ist, darum
muss es moralische und physische Weltordnung in gegenseitiger
Ergänzung geben, und muss diese doppelte Weltordnung
darauf hinauslaufen, alle Persönlichkeiten in den
Dienst der Erfüllung höherer Aufgaben zu stellen.
Es kommt nicht darauf an, von dem Vorgang der
Schöpfung sich genaue Vorstellungen zu machen; dergleichen
wird innerhalb des irdischen Lebens wohl niemals möglich
sein. Wohl aber kommt es darauf an, sich möglichst cor-
recte Vorstellungen zu machen über die Notwendigkeit
eines absolut persönlichen Urhebers der Schöpfung und ganz
bestimmter Endzwecke der Schöpfung Zu solchen Auffassungen
kann allein scharfe Logik leiten, welche ihre
Prämissen formt aus feststehenden Thatsachen und vernünftigen
Hypothesen. Zu allen Zeiten ist Derartiges geschehen
mit mehr oder weniger Glück; aber die erhaltenen
Goldkörner sind durch Einfluss von Unvernunft und Leidenschaft
so in Gebirgen von Sand zerstreut worden, dass dieselben
unendlich schwer aufzufinden und zu vereinigen sind.
Und gelang es, etwas von diesem Werk zu vollbringen, so
riss maasslos dumme Kritik das mühevoll Erbaute nieder
und schuf Zerrbilder jammervoller Theorien, welche Reihen
von Generationen als Irrlichter dienten.
§ 6-
Nur sehr wenige der mit Forschung und Nachdenken
professionell Beschäftigten sind im Stande, von den Kategorien
der sie umfliessenden Alltäglichkeit sich abzusondern,
aus dem Strome der thierischen Gesellschaft heraus zu
schwimmen, unbetretene Pfade zu gehen und selbständig,
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