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502 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 8. Heft. (August 1902.)
III. Abtheilung.
Tagesneuigkeiten, Notizen u. dergl.
(»elieimiiissvolle Tliiere und abergläubische
Jfleiisctien.*)
Von Dr. Karl Augustin.
Wenn im Hochsommer das Korn in Aeliren steht und
der goldenen Ernte entgegenreift, bemerken aufmerksame
Landleute zu ihrem Schrecken nicht selten lange schmale
Gassen durch ein wogendes Getreidefeld gemäht. Man
nennt diese eigentümliche Erscheinung den Bilmenschnitt
und den unbekannten Urheber derselben den ßilmenschnitter.
Mit dem Namen „Bilman" bezeichnete man in der heidnischen
Vorzeit die Priester des alten germanischen Ackergottes
Donar, welche die Felder segneten und dafür den Zehnten
erhielten. Diese Abgabe hörte mit Einführung des
Christenthums auf, aber nach dem Glauben des Volkes
nehmen die alten Donarsdiener jetzt heimlich, was man
ihnen freiwillig nicht mehr gewährt. In Bayern und
Thüringen hält man habgierige Menschen, die sich auf
Kosten ihrer Mitmenschen bereichern wollen, für die Urheber
des Bilmenschnittes. Sie gehen in der Johannisnacht,
wenn der Mond nicht scheint, nackt durch das Korn. Mit
einer an ihrem rechten Fusse befestigten Sichel mähen sie
die handbreiten Gassen, und die abgeschnittenen Halme
fliegen unter Beihülfe des Bösen in ihre Scheunen. Um zu
erfahren, wer der ßilmenschnitter ist, wendet man verschiedene
Mittel an. Man geht am St. Georgstag, 24. April,
vor Sonnenaufgang auf das Feld, sticht ein viereckiges
Rasenstück aus und legt es sich mit der grünen Seite nach
unten auf den Kopf, während man mit den Füssen in die
ausgegrabene Grube tritt. Wenn alles „unbeschrieen",
d. h. ohne ein Wort zu sprechen, geschieht, sieht man,
wer der Bilmenschnitter ist, meist ein lieber oder getreuer
Nachbar, den man dann belangen kann. Nicht ohne Gefahr
ist ein in Thüringen bestehender Brauch. Hier setzt
sich Einer am Trinitatis- oder Johannistage mit einem
Spiegel auf der Brust auf einen Hollunderbusch und blickt
aufmerksam nach allen Seiten um sich, bis er seinen
Schädiger erblickt, der dann sterben muss. Sieht aber
*) Aus dem „Literatur- und Unterhaltungs-Blatt* des „Hamburger
Fremdenblattes* uns nachträglich zum Abdruck eingesandt. — Red.
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