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550 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 9. Beft. (September 1902.)
ritualist) diesem vom Körper unterschiedenen Wesen eine
unsterbliche Existenz anweisen? Beweise erst, dass es
keine Einbildung, kein Gedanke ist, dass es Existenz
hat. Kannst Du aber das? Unmöglich. Sein heisst sinnlich
sein." Aber der Spiritualist könnte darauf sehr gut antworten
: „Beweise Du erst, dass das, was Du unter sinnlichem
Sein als materielle Körperlichkeit verstehst, in der
That das einzige sinnliche Sein ist. Kannst Du das ? Unmöglich
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Der vorbehaltlosen Feuerbach'schen Verneinung steht
die vorbehaltlose Bejahung des Glaubens gegenüber. Wer
zwischen beiden steht, wie meistens der Mensch der Gegenwart
, der einer spiritualistischen Strömung unterliegt, muss
sich die Frage offen halten oder sie im Sinn der Wahrscheinlichkeit
nach dem Gewicht entscheiden, welches er
den Argumenten für und wider zuerkennt. Nur muss er
sich davor hüten, über die Möglichkeit nach der Analogie
irdischer Vorgänge und nach dem Maass derselben abzu-
urtheilen. Was möglich oder unmöglich in Bezug auf das
Grundwesen der Dinge ist, kann von uns nicht nach Maassstäben
gemessen werden, die uns die Erfahrung auf materiellem
Gebiet an den Einzelerscheinungen an die Hand
gegeben hat. Der bekannte Vers Haller's (in dem Gedicht:
Antwort an Herrn J. J. Bodmer):
Mach' Deinen Raupenstand und einen Tropfen Zeit,
Den nicht zu Deinem Zweck, die nicht zur Ewigkeit
mag sich insofern auch heute noch behaupten.
Im langen Lauf des Lebens scheint schliesslich Alles
nur noch Wiederholung zu sein. Aus gewissen allgemeinen
Grenzen tritt, was auch kommen mag, nicht heraus. Das
Altbekannte, ewig Gestrige überwiegt. Nur Tod und
Sterben bleiben bestehen als unerhörte Ereignisse, von
denen Niemand Kunde giebt. Schon das leiht der Todesnähe
für den, der sich im Geist ihrer zu bemächtigen
weiss — den Meisten bedeutet sie allerdings nur eine Summe
von Altersbeschwerden *) — den Charakter eines über alle
*) Zu unserem grossen Bedauern ersehen wir aus einer freundlichen
Zuschrift des Herrn Verfassers vom 29. Juli er. aus Pillnitz,
(wohin er neuerdings seinen Wohnsitz von Plauen verlegt hat), dass
er hier aus eigener, schmerzensreicher Erfahrung spricht, indem er
uns u. a. schreibt: „Meine sogenannte geistige Frische, die sich bisher
ja allerdings ziemlich leidlich erhielt, würde dies wohl noch
besser thun, wenn zu meinen Jahren nicht ein sehr lä&tiges und angreifendes
Leiden (Harnverhaltung: „aquam vilissimam mihi atque
Eretiosissimam*, sagt Luther) käme, welches sich schon seit einem
alben Dutzend Jahren die möglichste Mühe giebt, meine physische
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