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Dankuiar: Geistige und soziale Strömungen etc. 589
Wirklichkeit der Geschichte, für die tiefe Poesie, welche
in der Geschichte liegt, zu Statten kamen. In allzu oft
nur zu breitem Detail entwirft er ein treues Bild der betreffenden
Zeit, in Bezug auf Gebäude, Landschaft, Trachten,
Sitten u. s. f., wobei ihn seine gründliche Gelehrsamkeit
unterstützte. Scott selbst sagt allerdings in seinen Notizen
zu „Waverley": „Tch richte meine Hauptstärke auf die
Schilderung der Charaktere und der Leidenschaften der
handelnden Personen. Diese Leidenschaften bewegen den
Menschen auf jeder Stufe der bürgerlichen Gesellschaft, und
dasselbe Herz schlägt unter dem Stahlpanzer des fünfzehnten
, unter dem Brokatkleide des achtzehnten und unter
dem blauen Frack und der weissen Weste des neunzehnten
Jahrhunderts.4' In historisch-prägnanter Weise schildert
Scott das Einzelindividuum als Frucht des allgemeinen
Weltzustandes, und aus all den krausen Abenteuern und
bunt verworrenen Begebenheiten weiss er stets allgemein
menschliche Gesichtspunkte herauszuschälen, während das
ethische und unvergängliche Verdienst seiner Romane: die
Durchdringung auch eines barbarischen Stoffes mit reinster
Humanität ist.
Taine und auch Brandes schätzen Scott sehr niedrig,
als Schriftsteller für die „reifere Jugend" ein. Mit Unrecht
dünkt uns. Wahr ist, dass Scott eine gewisse Philistermoral
eigenthümlich ist und seine Helden und besonders Heldinnen
sind nur zu oft uninteressante Figuren, die eine Atmosphäre
von Spiessbürgerlichkeit und Langerweile um sich verbreiten.
Wahr ist, dass er nur zu sehr für das Feudalleben des
Mittelalters schwärmte und dieses am liebsten auch in der
Neuzeit hätte verwirklichen wollen. Stets betont er das
Nationalbewusstsein, ist royalistisch, konservativ und oft
sogar fortschrittsfeindlich; in alle dem das völlige Widerspiel
Lord Byroris. Es sei blos an Scotfs Vergötterung eines
Menschen, wie es König Georg IV. war, erinnert und an sein
demonstratives Betonen seiner Verwandtschaft mit dem
Herzoge von Buccleuch. (Er erhielt auch den Baronettitel:
Sir Walter Scott). Dabei ist Scott aber ebenso vielgestaltig
und neuschöpferisch, als phantasievoll und mit tiefem
historischem, kulturhistorischem und völkerpsychologischem
Blicke begabt, gastfrei, liebenswürdig, klug und arbeitsam
(er starb buchstäblich mit der Feder in der Hand); auch
aufrichtig: er gesteht seine mangelhafte, einseitige Bildung
zu. Das war er! Und endlich war er — eine seltene Eigenschaft
— neidlos: nach Byron's Auftreten schreibt er keine
Versdichtung mehr, in Erkenntniss von dessen genialer Ueber-
legenheit. Seinem „guten Kameraden Scott", der ihm auch
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