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Fern kor n-Bertuch: Fernsehen oder Inspiration? 597
magischen Fähigkeiten des lebenden Menschen halten und
diese in erster Linie zur Erklärung herbeiziehen.
Im Somnambulismus zeigt sich das transscendentaie
Subjekt mit der Fähigkeit des Fernsehens ausgerüstet, und
bei der Untersuchung des Traumes können wir nicht dem
Resultat entgehen, dass die Spaltung des Ich in mehrere
Personen eine psychologische Thatsache ist. Wir verkehren
mit diesen Personen wie mit fremden Wesen und vernehmen
ihre Enthüllungen und Warnungen aus anscheinend fremdem
Munde. Eben aus diesem Grunde werden die aus dem
Traum ins Wachen herübergenommenen transscendentalen
Vorstellungen so oft als Inspirationen ausgelegt. Das
„Dämonion" des Sokrates, das alle Erklärungsinstanzen vom
seichtesten Rationalismus bis zum Offenbarungsspiritismus
durchlaufen hat, ist eines der bekanntesten hierher gehörigen
Probleme. Bei Sokrates trat das Fernsehen in der abgeschwächten
Form blosser Ahnungen ins Bewusstsein.
Sokrates selbst erzählt einen Traum ? in welchem ihm die
Verzögerung seines Todesurtheils um einen Tag angekündigt
wurde, was dann auch thatsächlich eintraf. In diesem Falle
erinnerte sich Sokrates deutlich des (symbolischen) Traumgesichtes
, das gewöhnlich im Wachen erst dann in sein Bewusstsein
trat und sich abhaltend verhielt, wenn er eine
ihm nachtheilige Handlung begehen wollte.*)
Folgender berühmter Traum zeigt nun, wie schwer es
manchmal ist, sich zwischen Fernsehen und Inspiration zu
unterscheiden. Zwei Freunde reisten nach Megara. Der
eine ging zu einem Gastfreunde, der andere schlief im
Wirthshaus. JSachts erschien der letztere seinem Freunde
und forderte ihn auf, ihm zu helfen, da der Wirth ihn
ermorden wolle. Er erwachte, blieb aber liegen und schlief
wieder ein. Abermals sah er nun den Freund, mit Wunden
bedeckt, der ihn bat, seinen Tod zu rächen. Eben werde
seine Leiche auf einem mit Mist bedeckten Wagen dem
*) Schon Ptutarch („De Socratis daemone*) lässt eine der im
Dialoge auftretenden Personen die Ansicht aussprechen, dass das
„Dämonium* des Meisters lediglich der transscendentaie Theil der
Seele des grossen Philosophen sei (was wir heutzutage sein „Unter-
schwellenbewusstsein* nennen würden) und schreibt diesem die
Gabe des Vorausschauens zu. Vesme, der in seiner klassischen
„Geschichte des Spiritismus* (übersetzt von Feüqenkauer, Bd. I:
Alterthum, 3. Buch, 2. Hauptstück S. 273—299) die „Gesichte des
Sokrates11' erschöpfend behandelt, hält ihn — im Gegensatz zu der
alienistischen Annahme blosser Gesichts- und Gehörshalluzinationen
— für ein hervorragendes Seh-undHör-Medium, mit dem Beisatz,
dass er wegen des festen Glaubens an seinen „Schutzgeist44 von den
Spiritisten mit Recht als ihr grösster und ruhmvollster Märtyrer
gepriesen werden dürfe. — Eed.
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