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Zur Frage des Vorausschauens.
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auch meine Hausgenossin*) zurück, und ich erzählte ihr sogleich
von meiner Vision. Als wir darauf gegen ein Uhr
am Mittagstische sassen, fühlte ich wieder, nur weniger
stark, als zuvor, einen unendlichen Jammer, und sah wiederum
eine grosse, unabsehbare Mäche brennend vor mir. Auf
meinen abermaligen Ausruf: „Ach, eine ganze Stadt steht
in Flammen!" fragte meine Freundin: „Kennst Du die Stadt?"
„Nein", sagte ich, „es ist eine fremde Stadt!" Nach zwei
bis drei Tagen lasen wir in der Zeitung von der Katastrophe
auf Martinique. —
Bei unserem Aufenthalte in D. zogen wir meist für den
Sommer in einen waldigen Vorort. Ende März 1883 wollte
mein Vater den Möbelwagen und sonstiges für den Umzug,
der an einem Donnerstage stattfinden sollte, bestellen; schon
war er auf der Treppe, da empfand ich eine so grosse
Angst vor dem Donnerstag als Umzugstag, dass ich eiligst
meinen Vater zurückzukommen bat und ihn veranlasste,
nicht Donnerstag, sondern Sonnabend zu wählen. Mein
Herzensväterchen war mir meiner vermeintlichen Laune
wegen ganz böse und fragte mich ziemlich unfreundlich nach
dem „Warum ?" In meiner Angst sagte ich: „Ach, ich weiss
es nicht, ein Unglück kommt, wenigstens wird es sehr
schlechtes Wetter!" Demzufolge bestellte mein Vater den
Wagen für den kommenden Sonnabend, und das zu unserem
Glück. Am Donnerstag erhob sich ein ungeahntes Unwetter,
Bäume, Laternenpfähle, Telegraphenstangen wurden umgerissen
, Dachziegel fielen zahllos von den Dächern, leider
auch einige Menschen verletzend, Hagel, liegen und Schnee
machten die Strassen unpassirbar, schlugen auch viele
Fensterscheiben ein. Am Freitag klärte sich das Wetter
und am Sonnabend lachte die Sonne ob all der Greuel und
suchte mit ihren warmen Strahlen vergessen zu machen,
was das Unwetter am Donnerstag angerichtet. Als wir dann
am Sonnabend in unsere Sommerresidenz einrückten, entschuldigte
sich der Wirth und sagte, er hätte nicht so
schnell die sämmtlichen Fensterscheiben der Wohnung einsetzen
lassen können, weil in dem ganzen Orte noch nie
*) Letztere Dame, eine feinfühlende Dichterin und Schriftstellerin
, welche aher, wie die Seherin selbst (die Unterzeichneten
mit ihrem persönlichen Besuch erfreute) aus begreiflichen Rücksichten
auf hochgestellte Verwandte nicht öffentlich genannt zu
werden wünscht, bestätigte auf briefliche Anfrage vollauf die obige
Darstellung und fügte bei, dass auch sonst häufig die wunderbarsten,
oft ganz unerklärlich scheinenden Träume ihrer Freundin sich kurz
oder lang nachher buchstäblich erfüllten und dass dieselbe
auch wachend kommende Dinge ahnt bezw, schaut, wovon uns noch
weitere Proben in Aussicht gestellt sind. Maier.
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