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604 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1902.)
gekannte Verwüstungen stattgefunden und erst Glaser von
auswärts hätten herbeigerufen werden müssen. Auch hatte
die Wohnung noch nicht in allen Theilen von dem hereingetriebenen
Sande und Wasser können gesäubert werden. —
Als Kind erlebte ich bei Gelegenheit einer prächtigen
Illumination, die zu Ehren Kaiser Wilhelm^ I. in 1). veranstaltet
wurde, Folgendes: Meine Eltern gingen mit ihren
sämmtlichen Kindern nach dem flauptschauplatz der
Illumination. Beim Beschauen der von mir nie geahnten
Herrlichkeit führte mich die Mutter an der Hand; plötzlich,
beim Herauskommen aus einem fürchterlichen Gedränge,
wurde mein jüngster Bruder, ein etwa elfjähriger Junge,
vermisst. Meine Mutter ängstigte sich sehr und bat meinen
Vater, doch sogleich Nachforschungen anzustellen. Da fasste
ich zaghaft den Arm meiner Mutter und sagte: „Liebe Mutter,
fürchte Dich doch nicht, Albert ist ja zu Hause und macht
seine Schularbeiten!" — Auf Mutters Frage: „Hat er Dir
denn gesagt, dass er nach Hause wollte? Er hat ja auch
keinen Schlüssel (zur Entreethür nämlich, die Hausthüre
wurde stets von den Parterrebewohnern beim Läuten geöffnet),
antwortete ich: „Gesagt hat er mir nichts, aber ich sehe
ihn, er ist übergeklettert und hat sich die Lampe angezündet/4
— Die Entreethüre zu unserer zwei Treppen hoch belegenen
Wohnung war, wie die Hausthüre, verschlossen. Ueber
unserer Entröethüre befand sich ein einsetzbares Fenster,
das aus irgend einem mir nicht mehr erinnerlichen Grunde
ausgehoben worden war, und wodurch eine wohl einen halben
Meter hohe and thürbreite Oeffnung entstand. Der Schlüssel
zum Wohnzimmer lag an einem bekannten Platze, denn
auch das Dienstmädchen war beurlaubt. — Meine Mutter
glaubte meiner Vision nicht, bewog vielmehr den Vater und
den ältesten Bruder, nach dem jüngsten zu suchen; mit uns
anderen Kindern ging sie nach Hause. Gross war aber ihr
Erstaunen, als die im Parterre Wohnenden auf ihre Frage
nach dem Vermissten ihr sagten, dass er vor einer halben
Stunde schon angelangt und nach oben gegangen sei, und
noch grösser wurde der Mutter Ueberraschung, als sie den
Bruder im Wohnzimmer am Tische sitzen und Schularbeiten
machen sah. Er war auf den Thürdrücker der Entröethüre
gestiegen und hatte sich, schon immer ein vorzüglicher
Turner, mit seiner schlanken, geschmeidigen Gestalt durch
die Oeftnung des ausgehobenen Fensters geschwungen.
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