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624 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1902.)
§ 19.
Philosophie und Religion stehen in organischem Zusammenhang
und müssen, wenn von erfolgreicher Ausübung
irgend welcher Art behufs fortschreitender Entwickelung
und Lösung persönlicher Aufgaben,wie Erreichung kosmischer
Endzwecke, die Rede sein soll, jeder Zeit als Offenbarungen
einer und derselben Grundwesenheit auf zwei verschiedenen
Seiten betrachtet werden. Jede Religion bedarf der Er-
kenntniss und einer daraus entsprungenen Weltanschauung;
alle Philosophie erstrebt Erkenntniss und bildet Weltanschauung
. Ferner müssen Philosophie und Religion
einander corrigiren; denn die Seele ist nicht nur denkend,
sondern auch fühlend, und der magische ebenso wie der
plastische Wille wird von Erkenntniss und Fühlung gleich-
massig commandirt. Demnach ist es keinen Augenblick
zweifelhaft, dass jede Religion, welche der Philosophie
ermangelt, nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch
unvollkommen sein werde; denn Religion in ihrer Gesammt-
heit ist ohne Weltanschauung, ohne Lebensphilosophie, ohne
Psychologie und Moral gar nicht denkbar, und andererseits
wäre Philosophie niemals möglich ohne Glauben, der doch
ebenso im Gemüth wurzelt, als im Geiste, demnach in
gleichem Maasse der Religion angehört.
Weil die Seele aller Wesen denkt und fühlt, einerlei
ob bewusst oder unbewusst, deshalb sind jeder Seele
Philosophie und Religion eigen, Erkenntniss und Wohlwollen
angeboren als Fähigkeiten. Auf diese beiden gründet
sich das gesammte persönliche und gesellschaftliche Leben,
und überall dort, wo selbst Philosophie und Religion, oder
auch Philosophie oder Religion, zurücktreten, erscheint
Entartung, verpestet das Sein und wirkt vernichtend.
Es giebt kein Denken und Fühlen ausserhalb der
Individualität, der Persönlichkeit, der Seele; alle Philosophie
und Religion gehören unverbrüchlich der Persönlichkeit
an. Darum könnten dieselben nur ausgerottet werden,
wenn man die Seele vernichtete. Solches aber geht nicht,
weil die Seele, als individualisirte magische Weltsubstanz,
unvernichtbar, unsterblich ist. Weil es kein Denken und
Fühlen ausserhalb der Persönlichkeit giebt, Gott aber
absolut denkt und fühlt, erkennt und wohlwill, darum
muss Gott absolut persönlich sein und die Lehre von einem
unpersönlichen Gott als Unsinn erscheinen.
Weil Gott denkt und fühlt, erkennt und wohlwill,
Philosophie und Religion inne hat, darum kommen diese
Attribute mch jeder Seele zu; denn der Prototypus jeder
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