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Reich: Persönlichkeit und Ewigkeit
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sieh hinzugeben, man sei zu völligem Abschluss gelangt
und habe Grundfragen gelöst.
Mit diesem Letztern hat es seine schwere Bedenken;
man möge schon sehr zufrieden sein, wenn ein die dunkle
Gegend durchzuckender Blitz Einiges im Umriss schauen
lässt. Solche Wahrnehmungen, in genügender Menge gemacht
, erlauben es, die Wahrheit so zu erschliessen, wie
man aus Petrefacten untergegangener Thiere Gestalten
reconstruirt und zu bildlichem Ausdruck bringt. Alle
Forschung ist mühselig, unvollkommen, alle Wissenschaft
mehr oder minder armselige Rhapsodie, und alle Gelehrten
sind in höherem oder geringerem Maasse dem Irrthum
unterworfen. Gross ist die Zahl der Denker von Profession,
deren ganzes Dichten und Trachten mit oder ohne Zorn
und Studium darauf hinaus läuft, der Erkenntniss möglichst
viel hindernde Steine in den Weg zu werfen und das Einfachste
derart zu verwirren, dass selbst Geister höherer
Ordnung die Arbeit einstellten, wenn man sie einlüde, die
Arbeit der Entwirrung zu besorgen. Wegen des Ueber-
wucherns der Philosoph asterei hat die Erkenntniss seit
mehreren Jahrtausenden nur wenig bedeutende Fortschritte
gemacht. Das Treiben der Philosophaster nöthigte die
eigentlichen Philosophen, recht viel Zeit zu opfern behufs
Hinwegräumung des leeren Strohes, welches gedroschen
wurde, und des Ballastes, welchen man anhäufte. Und
damit wurde so viel Kraft vergeudet, die den Erkennt-
nissen hätte förderlich sein können. In letzter Reihe liegt
die Schuld an dem verhängnissvollen Wirthschafts- und
Gesellschafts - System des tantum-quantum, welches wohlhabende
Idioten verlockt, unter die Weisen zu gehen, und
die wirklich Erleuchteten oft genug schändlich unterdrückt.
§22.
Geschichte hat jefles Wesen und jede Gattung von
Wesen. Wollte man diese Geschichte schreiben, so müsste
man sich darauf gefasst machen, eine Reihe von Bänden
zu schreiben, wenigstens Billionen Meilen lang. Obgleich
nun in der Geschichte jedes Individuums und jeder Gemeinschaft
Einzelheiten vorkämen, die in keiner anderen
Geschichte sich fänden, so könnte man doch die Mühe ersparen
, ein solches unbändiges Werk zu verfassen; denn
nur wenige dieser Besonderheiten böten hervorragendes
Interesse. Kennt man die Geschichte einiger Individuen
und Mehrheiten, so kann man ungefähr auf die Geschichte
der andern und im Allgemeinen mit zutreffender Genauig-
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