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Das Gesundbeten in Amerika
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Kirchen wird Sonntags derselbe Gottesdienst zwei Mal abgehalten
, Vormittags und Abends. Mittwoch Abends finden
gewöhnlich Meetings statt, in denen die Gläubigen ihre
Erfahrungen und Detaillirungen zum besten geben.
Während der grösste Theil der Anhängerschaft in
Amerika dem Mittelstände angehört und das Publikum in
den betreffenden Kirchen dementsprechend zusammengesetzt
ist, fehlt es doch den Gesundbetern nicht an Proselyten
aus den gebildeteren Ständen. Eine Gruppe bekannter
amerikanischer Schauspielerinnen ist mit ihrer Schwärmerei
für den neuen Glauben damit vor die Oeffentlichkeit getreten
, dass sie einer „Christian Sciencea-Kirche in Chicago
ein Lesepult aus Rosenboiz stiftete. Die Damen waren alle,
wie sie versicherten, auf wunderbare Weise geheilt und
bekehrt worden. Die Operettensängerin Lillian Rüssel, die ja
auch vor einigen Jahren in Berlin aufgetreten ist, erklärte
in Ainem offenen Brief, ein Gesundbeter habe sie in wenigen
Tagen von chronischer Bronchitis befreit, und seit der Zeit
heile sie sich selbst. Charakteristisch ist ihre Bemerkung,
Mrs. Eddy habe ihre Bücher unter Inspiration geschrieben.
Eine Kollegin der schönen Lillian hat es dem Gesundbeten
zu verdanken, dass sie mehrere Zoll gewachsen ist und so
eine harmonische Körperform erlangt hat. Eine andere
schreibt, „Christian Science" bewirke, dass sie besser singe,
sie habe nie Kopfschmerzen, sie werde nie müde, sie habe
nie Stimulantien nöthig.
Wie der gläubige Mohammedaner nach Mekka pilgert
zum Grabe des Propheten, so zieht es den Gesundbeter
nach Concord im Staate New-Hampshire, wo Mrs. Mary
Baker G. Eddy ihren Wohnsitz hat. Vorletzten Juni sah
diese 8000 Pilger vor ihrem Hause versammelt. Dieses, auf
einem Hügel gelegen, führt nicht umsonst den Namen
„Schöne Aussicht**. Um dieselbe Zeit wurde auch die jährliche
Botschaft an die Kirche erlassen. Wenn ihr auch
eigene Pressorgane zur Verfügung stehen, so weiss diese
kluge Frau doch den Werth der ihr keineswegs freundlich
gegenüberstehenden Tagespresse wohl zu schätzen und für
ihre Zwecke zu gebrauchen. Und worauf lässt sich die
amerikanische Sensationspresse nicht ein? So finden wir in
einer vielverbreiteten New-Yorker Zeitung ein Sendschreiben
von ihr, zu dem ein Prozess ihr die Veranlassung gab. Eine
von Gesundbetern behandelte Dame war gestorben und
hatte in einem Testament einer „Christian Science"-Kirche
eine Viertelmillion Mark vermacht. Das Testament wurde
natürlich von den Verwandten angefochten. Das Schreiben
hebt also an: „Zu behaupten, es sei eine Sünde, in einem
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