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718 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 12. Heft, (Dezember 1902.)
worden, um blos in ärgere Sklaverei zu sinken. Statt
eines grossen Löwen (Napoleon), pirschten nun hundert
erbärmliche Wölfe. Und die heilige Allianz nennt er „den
Affen der himmlischen Dreieinigkeit." Auf den Münzen sieht
Byron mit tiefem Schmerz nach Napoleon's Sturz „dieselben
legitim-stupiden Gesichter" wieder und im X. Gesänge
seines „Don Juan" schleudert er (66.-68. Strophe) England
eine furchtbare Anklage ins Gesicht. Byron kannte keine
Buhe: vorwärts, aufwärts, excelsior! Ein göttliches
Freiheitsgefühl durchloht ihn, und er möchte, dass
sein Wort zünde wie ein Blitz („Childe Harold"). Noch
mehr: Im vDon Juan" (IX, 135) will er jeden Stein lehren:
die Zwingherrn zu zermalmen. In die dumpfe Kirchhofsstille
der Reaktion, als Alexander\ Metternich's, CastlereagKn
Zwingherrschaft schwer auf Europas Völkern lastete,
schrillen die Ausbrüche seines revolutionären Zorns in die
stickige Atmosphäre:
„Krieg schwör' ich Jedem (wenigstens in Beden,
Vielleicht in Thaten einst), der den Gedanken
Bekriegt, und jedem Sykophanten; jeden
Despoten fordere ich in meine Schranken.
Ich weiss es nicht, wer siegt in diesen Fehden,
Doch wüsst ich's auch, ich würde nimmer schwanken.
Nichts wird den tiefen, offnen Hass je ändern:
Hass allen Tyrannen in allen Ländern!"
{nlhn Juan* X, 24).
Jm „Don Juan", den Goethe „grenzenlos genial4* nannte, hält
der Dichter dem englischen „Cant" nicht nur, sondern der
Moralheuchelei der civilisirten Gesellschaft einen Spiegel vor
und tritt gegen Bigotterie, Aberglauben, Unduldsamkeit und
Selbstsucht auf. Er zerschmettert die englische „Glory" eines
Wellington. „Im „Childe Harold" ist die Freiheit nur eine
Himmelsmuse, ein ideales Phantom; im „Don Juan ' hat sie
Fleisch und Blut gewonnen, trägt eine rothe, bluttriefende
Fahne in der Hand und droht mit dem Dolche", sagt Bleihtreu
so treffend und er nennt dieses „hohe Lied der Revolution"
die grösste dichterische That des lü. Jahrhunderts.
Da Lord Byron deutlich die Disharmonie zwischen Natur
und Menschenleben, zwischen Schöpfer und Geschöpf fühlte,
so ist es begreiflich, dass ihn auch das schwierige Problem
vom Ursprung des Bösen beschäftigt hat. Seine
dichterische Auseinandersetzung mit diesem Problem giebt
er in seinem „Kain", der entschieden das Vollendetste ist,
was er geschaffen, wie es auch zu dem Erhabensten gehört,
was die Weltliteratur überhaupt uns geschenkt hat. Kain
gehört zu der Familie der Prometheus, Hiob und Faust,
wie Johannes Scherr sagt, und ist viel abgeschlossener und
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