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M. H.: Mein Exaraensaufsatz.
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auf schwankendem Schiffe geradeswegs in den Rachen der
Scylla oder Charybdis hinein. Und bekanntlich gehörte nicht
nur Tüchtigkeit und Geschicklichkeit, sondern auch eine
Portion Glück dazu, ungefährdet zwischen diesen beiden
Ungeheuern hindurch zu kommen. —
Etwa drei Monate vor dem festgesetzten Prüfungstermin
bekam ich nun eines Nachts im Traume einen kleinen Vorgeschmack
von dem grossen Breigniss, was wohl gar nicht
verwunderlich war in der Zeit, wo alles Denken und Streben
sich nur auf dies Ziel richtete. Als ich am nächsten Morgen
in die Klasse trat, konnte ich meinen Gefährtinnen verkünden
: „Kinder, mir hat geträumt, wir bekämen den
„Anschauungsunterricht" als Examensaufsatz !u Ein Sturm
brach los. „So was zu träumen!" „Ach, das wäre ja
schrecklich!" „Solch' trockenes Thema" — „Na — da können
Sie sich ja jetzt schon darauf vorbereiten!" So und ähnlich
tönte es durcheinander.
Der Beginn der Stunde brachte bald wieder Ruhe in
die Gemüther. Unsere Arbeit, namentlich die grossen letzten
Repetitionen, nahmen uns völlig in Anspruch, und Niemand
dachte wieder an das getiäumte Aufsatz-Thema. Auch ich
selbst nicht. Und doch stand gerade vor mir der Examens-
Aufsatz wie ein schrecklich dräuendes Gespenst, trotzdem
der „deutsche Aufsatz" zu meinen Lieblingsfächern
zählte.
Ja, wurde er uns als häusliche Aufgabe gegeben, so
konnte ich das gestellte Thema erst ein paar Tage überdenken
, ehe ich ans Arbeiten ging. Zuweilen arbeitete ich
dann auch bei der Reinschrift noch einmal ganz um, was
ich tags zuvor im Konzept geschrieben, und die Lehrer
waren meist zufrieden mit den Aufsätzen, die ich lieferte.
Aber fast nie wollte es mir gelingen, in Klausur eine fertige
Arbeit zu stände zu bringen!
Lag das nun mit an der zum Aufsatz-Schreiben nicht
gerade günstig gewählten Stunde oder nur an meiner Schwerfälligkeit
? Kurz — so gewissermassen auf Kommando —
Nachm. von 2—4 Uhr — wollte die Sache nie gehen. Die
Gedanken brodelten und stürmten da zuerst nur so durcheinander
, und ich brachte es stets kaum zu einem Bruchstück
und zu Notizen für die weitere Ausführung.
Wie oft dachte ich ganz verzweifelt: „Du bringst im
Examen keinen Aufsatz zurecht und bist dadurch von Anfang
an rettungslos verloren!" Und auch unser guter
Direktor sprach diese Beiürchtung eines Tages indirekt
aus mit den Woiten: „Was soll aber im Examen werden?
Sie haben da auch nur zwei Stunden Frist." -
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