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738 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1902.)
Am 20. Februar 1892 betheiligte sich Mlle. Smith zum
ersten Mal an einer spiritistischen Sitzung, worauf sich bei
ihr sehr bald mediumistische Fähigkeiten: Klopf laute im
Tisch, automatische Schrift und Gesichtshalluzinationen entwickelten
, die sie selbst einer übersinnlichen Quelle zuschrieb.
Hypnotisirt wurde sie niemals, da sie eine unüberwindliche
Abneigung gegen hypnotische Experimente hat; dagegen
genügte bald ihr einfacher Wille, um s;ch nach längerer
oder kürzerer Zeit auf dem Wege der Autosuggestion
in den Trancezustand zu versetzen. Schon i\m 1. April mani-
festirte sich als ihr besonderer Schutzgeist kein Geringerer als
Victor Hugo, der ihr in väterlichem Ton gute Rathschläge
— meist in wohlgereimten, sinnvollen Versen, während das
Medium in normalem Zustand keinerlei Talent zur Dichterin
zeigt, — ertheilte. Allein schon am 26. August 1892 wurde
dieser erlauchte „Führer" von einem etwa 35jährigen, schwarz
gekleideten, äusserst energischen „Geist" verdrängt, der sich
„Leopold" nannte und fortan der unzertrennliche Begleiter
des Mediums blieb. In einer der folgenden Sitzungen wies
„Leopold" seine „Helene" auf eine Karaffe hin, die eine
anwesende Dame an eine Stelle im 15. Kapitel von Alexander
Dumas9 Roman „Memoires d'un medecin, Joseph Balsamo"
erinnerte, wo der Held Balsamo, der „Graf" Cagliostro, sich
mit einer ähnlichen Karafte zu schaffen macht, und nachdem
jene Dirne dem Medium nach dieser Sitzung auch noch eine
illustriite Ausgabe des Dumas'sehen Buchs, in welcher diese
Karaffenszene abgebildet war, gezeigt hatte, gab „Leopold"
bald darauf durch Tischklopfen seine Identität mit Joseph
Balsamo kund. Dieser Sachbestand brachte den gelehrten
Professor selbstverständlich zu der Ueberzeugung, dass
„Leopoll" nicht, wie Helene versicherte, ein wirklicher Geist,
sondern — vermöge einer in psychiatrischen Kliniken so oft
zu beobachtenden Bewusstseinsspaltung — ein „zweites
Ich" des Mediums, eine von dessen Untersehwellenbewusst-
sein erdichtete Persönlichkeit sei.
Bestärkt wurde Flournoy in dieser Hypothese durch seine
nachfolgenden Beobachtungen, die er (wie schon früher 1. c.
berichtet wurde) iu drei Kreise theilte, von denen sich zuerst
der von ihm „cycle royal" benannte ausprägte, worin das
Medium in einem früheren Dasein die französische Königin
Marie Antoinette gewesen sein wollte, deren Rolle sie mit
ziemlichem Geschick spielte. Ihre Bewegungen sind dann
graziös, elegant, den Umständen entsprechend auch hoheitsvoll
; sie hat harmlose Rendez-vous im Park von Trianon,
trinkt gegen ihre sonstige Gewohnheit Wein, isst viel, raucht
Cigaretten und schnupft sogar. Einen der Zuhörer, Mr.
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